Persönlichkeit: D.G. war ein ruhiger, introvertierter Mann, sehr gewissenhaft, gerechtigkeitsliebend und auf das Wohl der Anderen bedacht. Er war in einer Lebensmittelfirma im kaufmännischen Bereich, später in der höheren Verwaltung tätig. Als Ausgleich zur Büroarbeit war ihm Bewegung in der Natur wichtig. Er war eines von neun Kindern einer sehr religiösen, protestantischen Familie.
Vorgeschichte: Als Rentner begann für ihn eine schöne Zeit des Reisens mit seiner Frau. Sie - mit der er zeitlebens rege Diskussionen über verschiedenste Themen geführt hatte - , glitt dann jedoch in eine Demenz. Etwa sechs Jahre widmete sich D.G. mit Unterstützung der Tochter ihrer Betreuung. Als seine Gattin dann starb (nachdem sie fünf Tage lang nicht mehr gegessen und getrunken hatte), war D.G. sehr erschöpft und äusserte wiederholt den Wunsch, nun ebenfalls sterben zu dürfen. Er erholte sich dann zwar körperlich einigermassen. Allerdings litt er an einer inoperablen arteriellen Durchblutungsstörung beider Beine. Zudem machte ihm eine Lungenerkrankung (COPD; engl. Chronic Obstructive Pulmonary Disease) das Atmen immer schwerer.
Motivation: Etwa vier Jahre nach dem Tode seiner Frau musste D.G. wegen einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung für drei Wochen ins Krankenhaus. In dieser Zeit litt er vor allem an grosser Atemnot, und er sagte er immer wieder, er wolle Schluss machen. Als er aus der Klinik entlassen worden war, genoss er es jedoch erst einmal, wieder daheim zu sein.
Grund für die Wahl des Sterbefastens: Er hatte in den Jahren davor öfters mit seiner Tochter über das Sterben gesprochen. Zwar war er (wie zuvor auch seine Frau) schon seit langem Mitglied bei EXIT gewesen, aber als Alternative zum assistierten Suizid rückte dann zunehmend der FVNF in den Vordergrund - eine Möglichkeit, über die er sich dann sehr gründlich informierte.
Entscheidungsfindung: Kurz nach seiner Rückkehr aus der Klinik erhielt seine Tochter von ihm die klare Ansage, dass er ab sofort nicht mehr essen und trinken werde, was sie ohne längere Diskussion akzeptierte. Als am nächsten Tag sein Hausarzt vorbeikam, sagte D.G. ihm klar und bestimmt, dass sein Entschluss nicht diskutierbar sei. Allerdings war er damit einverstanden, dass ihm ein Glas Wasser ans Bett gestellt wurde für den Fall, dass sein Durst unerträglich würde. Seine beiden Söhne, die damals im Ausland waren, sollten von seinem Entschluss zunächst nichts erfahren. Auf Wunsch der Tochter informierte er sie später dann aber doch durch Telefonanrufe.
Schwierigkeiten: Es gab praktisch keine Probleme mit Durst und es traten während des Sterbefastens keine besonderen körperlichen Beschwerden auf. Die ersten zwei Tage nahm D.G. zusammen mit seinen Tabletten ein wenig Wasser zu sich; danach stellte er das Trinken radikal ein. Auf die wiederholte Frage, ob er Durst habe, schüttelte er jedes Mal den Kopf.
Pflegerische Unterstützung: Diese lag ganz in den Händen seiner Tochter. Sie besorgte ihm Glycerin-Zitronen Stäbchen. Mit ihnen konnte er den Mund befeuchten, was er bis zum zweitletzten Tag auch regelmässig machte. Danach übernahm die Tochter die Mundpflege. Weil der Vater nicht wollte, dass die Tochter die ganze Zeit bei ihm in der Wohnung blieb, besorgte diese ein Babyphone, damit er nach ihr rufen konnte. In dieser Zeit schaute sie alle drei bis vier Stunden vorbei. Später zog sie dann aber doch wieder bei ihm ein, und die letzte Nacht blieb sie ununterbrochen neben seinem Bett.
Ärztliche Unterstützung: Der Arzt willigte ein, ihn zu unterstützen. Er stellte prophylaktisch ein Rezept für Morphin-Tropfen aus. Es kam zu keinen Situationen, in denen ein Besuch von ihm nötig wurde.
Dauer: 6 Tage.
Tod: In der vorletzten Nacht erlebte er einen beängstigenden Verwirrungszustand. Danach war er in grosser Sorge, er könnte in solch einem Zustand nach Essen und Trinken verlangen. Die Tochter musste ihm versprechen, solche Wünsche gegebenenfalls zu ignorieren. Am Abend des fünften Tages wirkte D.G. unruhig. In der Nacht sagte er immer wieder, er wolle nun gehen, und versuchte, aus dem Bett steigen. Er ließ sich von der Tochter aber jedes Mal beruhigen und nickte dann wieder ein. Am nächsten Tag war er morgens noch zeitweise unruhig. Gegen Mittag entspannte er sich und wurde ganz still. Am Nachmittag tat er dann seinen letzten Atemzug.
Bewertung seitens des Sterbenden: D.G. hatte sich für das Sterbefasten entschieden und war sehr willensstark bei der Durchführung. Man konnte ihm kein Leiden anmerken. Meistens wirkte er ruhig und entspannt, nur reden mochte er nicht viel, und Besuche von Freundinnen und Freunden wollte er nicht haben. Daher dürfte er sein Versterben als einen guten Tod zur rechten Zeit bewertet haben.
Sicht der Angehörigen im Rückblick: Die beiden Söhne konnten aus der Ferne wenig beitragen, akzeptierten aber den Wunsch des Vaters. Für die Tochter war sein Sterbefasten rundum stimmig. Rückblickend ist sie ist einfach dankbar für die ruhige, würdevolle Atmosphäre zuhause, in der sie ihren Vater begleiten durfte.
Anmerkungen: Dieses Beispiel aus unserer Fallkollektion ist ungewöhnlich gut verlaufen und darf Mut machen. Wie die anderen Fälle zeigen, dauert das Sterbefasten meist länger, und es kann auch schwieriger sein. Am Ende wird es jedoch fast immer als richtige Entscheidung in einer gegebenen Situation bewertet.
Quelle: Ein ausführliches Tagebuch der betreuenden Tochter, dessen Zusammenfassung sie uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. E-Mails von C.W. mit der Tochter.