Sterbefasten- Informationen zu FVNF 
            Sterbefasten- Informationen zu FVNF 
            Sterbefasten- Informationen zu FVNF

Fall 4: «Möchte nicht weiterleben, nur um euch zu trösten»

Alter: 84; Geschlecht: männlich; Ort: Zuhause (Österreich)


Persönlichkeit: Technischer Beamter im Ruhestand. Sehr ordnungsliebend, sensibel, immer sehr höflich, bescheiden und zuvorkommend. Er durchlitt zeitweilig depressive Phasen, die er ausserhalb der Familie tapfer zu überspielen versuchte.

Vorgeschichte: Er litt seit fünf Jahren an einem Mantelzell-Lymphom, das sich zuletzt wieder stärker entwickelt hatte. Eine zweite Chemotherapie brachte nur kurzzeitigen Erfolg, zusätzlich aber einen deutlich verschlechterten Allgemeinzustand: Der Patient litt, obwohl weiterhin mobil, unter ständiger Müdigkeit und körperlicher Schwäche. Herz, Niere oder Lunge waren jedoch für sein Alter in ausserordentlich gutem Zustand. In den letzten zwei Monaten vor seinem Lebensende hatte er stark geschwollene, blau angelaufene Lymphknoten an Armen und Beinen. Hinzu kamen epileptische Anfälle, deren Ursache nicht eindeutig zu klären war; man nimmt an, dass eine Lymphom-Metastase im Kopf sie auslöste.

Motivation: Das Lymphom im Gehirn schädigte das Sprachzentrum – eine sehr schlimme Erfahrung für einen Menschen, der sich immer sehr gewählt ausgedrückt hatte. Der Patient wusste teilweise die Worte nicht mehr und sprach sie manchmal mit falschen Vokalen oder extrem undeutlich aus. An manchen Tagen traten diese Probleme jedoch nicht auf. Eine dritte Chemotherapie kam wegen des körperlichen Allgemeinzustandes nicht mehr in Frage, ebensowenig wie eine Operation, da zu riskant.

Grund für die Wahl des Sterbefastens: Der Patient hätte sich ärztliche / medikamentöse Suizidhilfe gewünscht, die in Österreich damals verboten war. Daher blieb als Ausweg nur das Sterbefasten. Er hatte dazu einen TV-Beitrag gesehen und sich auch an das Sterben seiner Mutter erinnert, die in den letzten Tagen im Krankenhaus das Essen verweigert hatte.

Entscheidungsfindung: Als die Diagnose feststand, traf der Patient seinen Entschluss zum Sterbefasten innerhalb weniger Tage. Er betonte: «Ich möchte nicht noch ein paar Monate so weitermachen, nur um euch zu trösten.» Er wollte auf keinen Fall in ein Krankenhaus oder ein Hospiz wechseln, sondern daheim in seinem Bett sterben. Ehefrau und Tochter sicherten ihm angesichts der verzweifelten Lage ihre Unterstützung zu. Sie holten rasch noch Rat beim behandelnden Onkologen und bei der Hausärztin ein. Beide betonten ihr Verständnis für die Entscheidung des Patienten angesichts der ausweglosen medizinischen Situation.

Schwierigkeiten: Der Patient begann gleich am Tag nach der Entscheidung mit dem Sterbefasten und erwartete, dass es höchstens eine Woche dauern würde. Auf Nahrung verzichtete er sofort komplett. Leider war aber die Einnahme von Epilepsie-Tabletten weiterhin nötig (2 x täglich 2 grosse Kapseln), was eine Wasserzufuhr von 50 oder mehr je Tabletteneinnahme erforderte und den Sterbeprozess erheblich verlängerte.

In den ersten Tagen ging es dem Patienten gut; er war sogar plötzlich schmerzfrei. Trotz seiner Schwäche wollte er weiterhin selbst aufs WC gehen, was aber zunehmend zu einer körperlichen Herausforderung für die Tochter und die herzkranke Ehefrau wurde. Nach einer Woche benötigte der Patient Inkontinenzeinlagen; er bestand aber weiterhin auf dem Gang zur Toilette - bis zu sechs Mal pro Tag (was sicher auch seinem überaus ordnungsliebenden Charakter zuzuschreiben war).

Der Patient wollte sich immerzu verbal äussern, doch konnte man ihn kaum noch verstehen, was auch an seiner Schwäche lag. Die Angehörigen versuchten daher nur noch Fragen zu stellen, die er mit Ja oder Nein beantworten konnte, worauf er sich jedoch schwer einzustellen vermochte.

Durstprobleme traten insofern auf, als der Patient im fortschreitenden Verlauf des FVNF teilweise vergass, dass er mitten im Sterbefasten war, und nach «Apfel» oder «Gurkensalat» oder «mehr Wasser» verlangte. Beim ersten Mal wurden ihm winzige Stückchen Apfel angeboten, an denen er sich allerdings sofort verschluckte, so dass er einen schrecklichen Hustenanfall bekam. Auch in den Folgetagen äusserte er solche Wünsche. Sie abzulehnen, fiel den Angehörigen extrem schwer.

Ein flüssiges Opioidpräparat (Vendal) wurde von Anfang an zur Verfügung gestellt. Insgesamt wurde es vier Mal verabreicht. Leider wurde der Patient nach der Einnahme jedes Mal äusserst unruhig, bekam Wachträume, redete wirr und sah Gespenster anstatt ruhig zu werden oder zu schlafen. Daher musste man den Wunsch, es dem Patienten beim FVNF mittels eines Opioids etwas angenehmer zu machen, wieder aufgeben (vergleiche die Anmerkungen).

In den letzten Tagen kam es zu einer sehr unangenehmen Verschleimung der oberen Atemwege. Der Patient schaffte ein Abhusten der Schleimpfropfen kräftemässig nicht mehr, weshalb er dauernd Atemprobleme hatte. Sehr unangenehm war für die Angehörigen übrigens ein extremer Mundgeruch des Patienten.

Pflegerische Unterstützung: Eine erste Kontaktaufnahme zu einem Pflegedienst gleich zu Beginn des Sterbefastens verlief unerfreulich: Der Patient regte sich fürchterlich auf (obwohl die Pfleger nur 1x pro Tag für 1 Stunde kommen sollten). Somit war klar, dass externe Unterstützung bei der Pflege nicht in Frage kam. Die Tipps des Pflegepersonals waren zudem wenig hilfreich; hier fehlte es eindeutig an Fachwissen.

Drei Tage vor dem Tod wurde auf Initiative der Angehörigen ein (kostenloses!) Palliativteam kontaktiert, das sofort zu einem Besuch zur Verfügung stand. Hier wurde endlich die Unterstützung geboten, die die Angehörigen schon vor Wochen benötigt hätten:

- Selbstauflösende Beruhigungstabletten (vergleiche Anmerkungen) für die orale Einnahme, da der Patient zu diesem Zeitpunkt kaum mehr in der Lage war, zu schlucken.

- Stäbchen mit Schaumstoff, mit denen die Befeuchtung der Schleimhäute leichter ging; sehr hilfreich auch der Tipp, diese zum Beispiel in Ananassaft oder Kamillentee zu tauchen.

- Ein Notfallpräparat zum Verabreichen durch die Nase für den Fall eines epileptischen Anfalls.

- Die Empfehlung, den Patienten nicht zuzudecken, wenn er sich selbst abdeckt. Niemand vorher hatte den Angehörigen gesagt, dass Sterbende unter innerer Hitze leiden können, auch wenn sie sich aussen kalt anfühlen.

- Eine 24h-Notrufnummer im Fall von Fragen oder dringend benötigter Unterstützung.

Ärztliche Unterstützung: Die Hausärztin besuchte den Patienten in den 21 Tagen drei Mal für je drei Minuten mit der Feststellung «läuft eh alles normal»; das war alles. Als die Tochter darauf hinwies, dass der Vater die Epilepsie-Tabletten bald nicht mehr werde einnehmen können, da sein Schluckreflex nach der ersten Fastenwoche immer schlechter funktionierte, wurde ein Präparat für den Fall eines epileptischen Anfalls verschrieben - zunächst als Zäpfchens, dann in flüssiger Form, nachdem die Tochter diese Alternative entdeckt hatte, die sich als erhebliche Erleichterung erwies.

Etwa zwei Wochen nach Beginn des Sterbefastens wurde ein Notarzt gerufen, da man einem neuerlichen epileptischen Anfall befürchtete. Für die Angehörigen stand es nun auf der Kippe, ob sie die Betreuung noch allein zuhause weiter schaffen würden oder eine Einweisung auf die Palliativstation erfolgen musste. Der Notarzt sagte jedoch den besorgten Angehörigen, der Zustand des Patienten würde eine weitere Betreuung zuhause erlauben; zudem sei er seinem Ende schon ziemlich nahe.

Dauer: 21 Tage

Tod: Der Patient starb im Schlaf, hatte die letzten 24 Stunden aber Herzrasen und atmete permanent schwer keuchend, was sehr wahrscheinlich an der Verschleimung lag.

Bewertung seitens des Sterbenden: Der Patient fragte immer wieder «Wie lange noch?» und sagte morgens frustriert «Jetzt bin ich schon wieder aufgewacht!». Er bat mehrmals um medikamentöse Sterbehilfe und musste von den Angehörigen daran erinnert werden, dass dies in Österreich nicht erlaubt ist. Er hatte eine Dauer von maximal einer Woche erwartet und musste 21 Tage leiden. Die Angehörigen sind sich nicht sicher, ob der Patient das Sterbefasten auf sich genommen hätte, wenn er sich vorher genauer über die mögliche Dauer und Nebenerscheinungen informiert hätte.

Sicht der Angehörigen im Rückblick: Tochter und Ehefrau waren mit dem Sterbefasten zwar einverstanden, zwischendurch jedoch trotz vielfältiger eigener Recherchen ratlos und an der Grenze der emotionalen und körperlichen Belastbarkeit, zumal sie sich von kompetenter Seite weitgehend im Stich gelassen fühlten. Beide waren jedoch glücklich darüber, dass sie es durchgehalten hatten, dem Patienten das Sterben daheim im eigenen Bett zu ermöglichen, ohne die von ihm so gefürchtete externe Pflege. Mit dem Tod des Patienten trat bei den Angehörigen ein starkes Gefühl der Erleichterung ein: der Patient hatte es endlich geschafft! Rückblickend hätten sich die Angehörigen sehr die Möglichkeit eines assistierten Suizids gewünscht.

Anmerkungen:

- Die Opioidgabe hatte offensichtlich zu einem Delir geführt, und zwar der hyperaktiven Variante (es gibt auch eine hypoaktive, die leicht zu übersehen ist; siehe unten Literaturhinweis). Dies ist nichts Ungewöhnliches, und es hätte eigentlich von den Ärzten erkannt werden müssen (was allerdings nicht der Fall war). Wir kennen mehrere andere Beispiele, in denen beim FVNF – ohne ärztliche Indikation, also nur als Annehmlichkeit für den Sterbefastenden – Opioide gegeben wurden, ohne dass Komplikationen auftraten. Mit solchen muss man jedoch rechnen.

- Bei den vom Palliativteam verordneten Beruhigungstabletten handelte es sich um Lorazepam. Sich selbst auflösende Tabletten werden unter die Zunge gegeben («sublinguale» Verabreichung) – was für den Patienten unproblematisch ist, sofern der Mund feucht genug ist.

Quellen:

Ein persönlicher Bericht der Tochter sowie Antworten auf Nachfragen.

«Sterbefasten», von Peter Kaufmann, Manuel Trachsel und Christian Walther; Kohlhammer-Verlag, 2020; zu Delir siehe das Kapitel von Manuel Trachsel «Selbstbestimmungsfähigkeit und deren Beeinträchtigung beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: Psychische Erkrankungen, Delir und andere Ursachen.»