Sterbefasten- Informationen zu FVNF 
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Fall 23: «Wozu noch weiterleben?»

Alter: 71; Geschlecht: männlich; Ort: Pflegeheim (CH)


Persönlichkeit: Ein humorvoller, witziger und vielseitig begabter Mann, von Beruf Physiotherapeuth, kulturell sehr interessiert und von offenem Charakter, beliebt in einem seit Jahrzehnten bestehenden Freundeskreis. Zeit seines Lebens hatte er Trompete gespielt und war mit Laienformationen öffentlich aufgetreten.

Vorgeschichte: Sieben Jahre vor seinem Tod war ein Hirntumor diagnostiziert worden. Die Operation verlief sehr gut. Die ersten drei Jahre danach war er voller Hoffnung trotz einiger körperlicher Einschränkungen wie gelegentlicher leichter Lähmungserscheinungen. Vernarbungen im Hirn lösten dann jedoch Epilepsieanfälle aus. Er musste sechs Jahre nach der OP in ein Pflegeheim eingewiesen werden, obwohl er dies nie gewollt hatte. Die Langzeitprognose war jedoch relativ gut: Seine körperlichen Einschränkungen hatten sich seit mehr als einem Jahr nicht mehr verschlechtert.

Motivation: Er hatte zwar keine grossen Schmerzen, doch weil er mittlerweile ständig bettlägerig war und in schlimmer Weise körperlich verkrampft, musste ihn das Pflegepersonal regelmässig umbetten. Noch konnte er, wenn auch mühsam, selbständig essen und trinken. Seine unkomfortable Situation machte ihn jedoch oft missmutig und schroff gegenüber den Pflegenden und seiner Lebensgefährtin, die ihn fast täglich besuchte. Am meisten zu schaffen machte ihm, dass er nicht mehr musizieren konnte. Hinzu kam, dass er sich auf nichts mehr für längere Zeit richtig konzentrieren konnte und schnell ermüdete. Das Weiterleben schien ihm völlig ohne Sinn zu sein. Dies sagte er wochenlang zu den Angehörigen, dem Pflegepersonal und seinem Hausarzt, bis er dann mit Sterbefasten begann

Grund für die Wahl des Sterbefastens: Er hatte sich mit Computerrecherchen über das Sterbefasten informiert. Er wählte es, weil es eine Form des Sterbens sei, bei der man langsam Abschied nehmen könne. Ein abrupt erfolgender Suizid mit Hilfe einer Sterbeorganisation würde, so sagte er, nicht zu ihm passen.

Entscheidungsfindung: Für seine Angehörigen und das Pflegepersonal überraschend kündigte er an, er wolle mit Sterbefasten beginnen. Seine Lebenssituation sei für ihn absolut unerträglich. Ihm fehle alles, was ihm früher Freude bereitet habe und ihm noch immer viel bedeute. Er hadere mit seinem Zustand und möchte sich seinem Umfeld in diesem Zustand nicht mehr länger zumuten. Obwohl die Grundhaltung des Heimes auf christlichen Werten beruhte, konnten die Heimleitung und das Pflegepersonal den Sterbewunsch verstehen und akzeptieren. Nach anfänglichen Bedenken konnte sich auch seine Lebenspartnerin mit seinem Entschluss abfinden.

Schwierigkeiten: Er konnte relativ gut aufs Essen verzichten, hingegen machte ihm trotz guter Mundpflege der Durst zu schaffen. Wenn ihn seine Lebensgefährtin oder Freunde besuchten, konnte er sich nicht zurückhalten. Daher trank er fast täglich mindestens ein Glas Weisswein. Dies verlängerte sicherlich die Dauer des Sterbefastens, aber es ist schwer einzuschätzen, wieviel kürzer es bei einem radikaleren Flüssigkeitsverzicht gedauert hätte.

Pflegerische Unterstützung: Das Pflegepersonal sorgte sich freundlich und verständnisvoll um den Patienten. Es bestanden gute Erfahrungen mit der Mundpflege.

Ärztliche Unterstützung: Regelmässige Krankenbesuche des Hausarztes, der den Patienten seit vielen Jahren betreute. Allerdings betrachtete der Arzt das Sterbefasten als eine besondere Form des Suizids. Trotz seiner moralischen Bedenken war er aber bereit, seiner ärztlichen Pflicht nachzukommen.

Dauer des Sterbefastens: 18 Tage. An den letzten beiden Tagen war der Patient unruhig, so dass eine leichte Sedierung nötig war.

Tod: Friedliches Einschlafen spät abends.

Bewertung seitens der sterbenden Person: Er war bis zuletzt von der Richtigkeit seines Entschlusses überzeugt und konnte mit Unannehmlichkeiten wie dem trockenen Mund oder der Dauer des Sterbens ziemlich gelassen umgehen.

Sicht der Angehörigen im Rückblick: Der Zeitpunkt des Entschlusses, das Leben zu beenden, erschien ihnen trotz seiner schwierigen Lebenssituation zu früh. Im Nachhinein konnten sie aber sein Vorgehen sehr gut verstehen. Sie waren dankbar für die intensive Zeit des Abschiednehmens und hatten wenig Probleme mit der Situation. Das lag auch daran, dass die frühere Liebenswürdigkeit des Patienten zurückgekehrt war, nachdem er mit dem Sterbefasten begonnen hatte.

Anmerkungen: Mit seinen Einschränkungen hätte der Patient bei guter Pflege durchaus einige Jahre weiterleben können. Da sich dieser Fall in der Schweiz ereignete, wäre auch ein Suizid mit Hilfe einer Organisation wie EXIT in Frage gekommen. Unterstützung erhält man dort ja auch im Falle kaum noch erträglicher oder lang andauernder Leiden sowie auch bei einem «Leiden am Alter». Der Patient entschied sich bewusst gegen diese Möglichkeit.

Quelle: palliacura – Eine Stiftung von EXIT Deutsche Schweiz. Bericht eines Freundes.

Hinweis: Dieser Fall wird im Buch «Sterbefasten» (Kohlhammer, 2020) ausführlicher dargestellt.