Sterbefasten- Informationen zu FVNF 
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Fall 22: «So nicht»

Alter: 87; Geschlecht: männlich; Ort: Pflegeheim (Deutschland)

Persönlichkeit: Ein sehr kontaktfreudiger, auch im Alter noch oft lebensfroher Mann, der über 60 Jahre sehr glücklich verheiratet war. Er war Maschinenbau-Ingenieur gewesen und konnte weitgehend selbstständig arbeiten. In den letzten Wochen seines Lebens empörte er sich darüber, dass es in Deutschland den Menschen so schwer gemacht werde, an ein tödlich wirkendes Medikament zu kommen, wenn die Zeit dafür reif sei.

Vorgeschichte: Er hatte drei Jahre vor seinem Tod einen Schlaganfall erlitten, war seither auf pflegerische Hilfe angewiesen, aber dank eines elektrischen Rollstuhles noch relativ mobil. Er lebte in einer Seniorenwohnung zusammen mit seiner Frau, die ihn mit hohem Einsatz pflegte. Als diese ziemlich unerwartet an Brustkrebs verstarb, zog er in ein Pflegezimmer in der Seniorenanlage ein. Die Betreuung dort war seiner Ansicht nach gemischt – es wurde viel getan, und doch fehlte es immer wieder an Zeit oder Sorgfalt bei der Unterstützung für die Dinge des täglichen Lebens.

Motivation: Er hatte trotz häufiger lebhafter Kontakte mit anderen und liebevoller Zuwendung seiner Familie allmählich das Gefühl bekommen, dass das Leben unter den jetzigen Umständen ihm nichts mehr bedeute. Dazu schreckte ihn die Vorstellung, dass die Zukunft eine weitere Verschlechterung seines medizinischen Zustandes bringen könnte. Vor allem aber hatte sich in ihm die Vorstellung verfestigt, wenn er sterbe, werde er wieder mit seiner Frau vereint sein, die ihm sehr fehlte. Nicht zuletzt hatte er sich mit dem Vorsatz zum Sterbefasten sozusagen opfern wollen, damit man später über die Veröffentlichung seines Sterbens darauf aufmerksam gemacht werde, wie schwierig es ist, in einem Heim den Wunsch, vorzeitig zu sterben, zu verwirklichen.

Grund für die Wahl des Sterbefastens: Dies ergab sich für den in einem Heim lebenden Patienten irgendwie von selbst, denn andere Möglichkeiten, das Leben vorzeitig zu beenden, boten sich ihm nicht. Allerdings hatte sich der Patient über Sterbefasten überhaupt nicht informiert, sondern er wollte es eines Tages einfach beginnen. Hier liegt ein Hauptgrund dafür, dass sich dann alles sehr unerfreulich entwickelte.

Entscheidungsfindung: Erst als er mit dem Sterbefasten seine ersten Versuche machte, wurde seine Entscheidung mit den Kindern und den zuständigen Personen des Heims erörtert. Die Leitung des (christlichen) Heimes akzeptierte den Entschluss, bestand aber auf Massnahmen, die einen Sturz verhindern sollten, damit es nicht zu einer Einweisung in ein Krankenhaus kommen würde. Im weiteren Vollzug des Sterbefastens wurde seine Standhaftigkeit allerdings wiederholt untergraben durch freundliche Aufforderungen, doch mehr zu trinken, unter anderem von einer Pfarrerin.

Schwierigkeiten: Der Patient konnte sich sehr lange nicht wirklich auf den Trinkverzicht einstellen – er fand diesen sehr unangenehm und hoffte wohl auch, dass sein konsequenter Nahrungsverzicht eigentlich ausreichen müsste, um demnächst zu sterben. Zudem hatte sich das Heim (wegen Unwissenheit oder Überlastung) in den ersten Wochen überhaupt nicht um die Mundpflege gekümmert, und auch die Kinder des Patienten waren über diese Notwendigkeit zunächst nicht im Bilde gewesen. Dass sich alles dann sehr lange hinzog, machte ihn verzweifelt. Auch klagte er in einer späteren Phase seines Sterbefastens gelegentlich über Muskelkrämpfe.

Pflegerische Unterstützung: Der Patient wurde vom Heim sehr freundlich versorgt, aber zu einer konsequenten und kompetenten Mundpflege reichte weder die Kompetenz noch die Kapazität. Er wurde sehr oft, ausser in der letzten Phase, von der Tochter besucht, die sich dann auch um die Mundpflege kümmerte. In der letzten Woche wurde eine private Pflegekraft mit hospizlicher Erfahrung eingestellt, die ihn dann fast ganztägig kompetent und sehr liebevoll umsorgte.

Ärztliche Unterstützung: Die mit dem Patienten seit langem vertraute Ärztin hatte ihm gegenüber erklärt, dass sie diesen Weg als Suizid betrachte und dass sie keine Art von Sterbehilfe leisten werde, die ihre Approbation gefährden könnte. Als der Patient gegen Ende seines Leidensweges nach einem Mittel verlangte, welches es ihm erleichtern würde, mit der Situation umzugehen, musste er behaupten, er habe Schmerzen. Es wurden dann (etwa 10 Tage vor seinem Tode) Morphin-Pflaster verordnet; die Dosis wurde nach und nach erhöht, weil der Patient zeitweilig sehr unruhig war. Zuvor hatte er bereits einige Tage lang ein sedierendes Medikament erhalten.

Dauer: 40 Tage. Der Patient hatte nur in der ersten Woche noch ein wenig gegessen. Somit hat er 4 – 5 Wochen ohne Nahrungsaufnahme überlebt.

Tod: Der Patient verschied nachts friedlich im Schlaf.

Bewertung seitens des Sterbenden: Er fand den fast vollständigen Verzicht auf das Trinken eigentlich unzumutbar und verglich das mit Folter. Immer wieder richtete ihn die Erwartung auf, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis sein Leben zu Ende sei.

Sicht der Angehörigen im Rückblick: Es war eine Berg- und Talfahrt der Gefühle; sehr anstrengend und Anlass zu Selbstzweifeln, am Ende aber dann doch gut, weil das Drama ein friedliches Ende fand und letztlich der Verstorbene sein Ziel erreicht hatte.

Anmerkungen: Die ausführliche Darstellung dieses Falles (siehe Quelle) lässt erkennen, dass anfangs der Sterbewunsch noch leicht durch die Freude an menschlichen Kontakten relativiert wurde. Später versuchte der Patient mehrere Male, sich aus der Situation des Sterbefastens zu befreien und auf andere Weise einen raschen Tod herbeizuführen, allerdings vergebens. Die Schwierigkeiten, die in einem Heim entstehen, wenn man durch Sterbefasten das Leben vorzeitig beenden will, treten in der ausführlichen Schilderung deutlich zu Tage – interessant für Pflegende wie für Sterbewillige.

Quelle: Frauke Luckwaldt «Ich will selbstbestimmt sterben! Die mutige Entscheidung meines Vaters zum Sterbefasten», Ernst Reinhardt Verlag, 2018. Mit einem 7-seitigen Vorwort von Dr. Michael de Ridder, das unter anderem über die ärztliche Sicht auf Sterbefasten und die aktuelle Rechtslage in Deutschland eingeht. Ferner persönliche Mitteilungen der Autorin an Christian Walther.

Mehr zum Buch findet sich hier. Eine Hauptbotschaft des Buches ist: Wenn jemand aus guten Gründen sein Leben vorzeitig beenden will, dann soll er nicht auf Sterbefasten angewiesen sein, sondern legal auf andere humane Möglichkeiten zurückgreifen können.

Zu diesem Fall finden sich auch Informationen in diesem Video.