Persönlichkeit: Der ehemalige Bäcker lebte schon seit mehreren Jahren wegen schlechter Gesundheit in einem Pflegeheim. Er war wortkarg, mit einer Neigung zu humorvoll-trockenen Ein-Satz-Antworten. Er war Vater zweier Kinder; geschieden. Offenbar bestanden seit langem zu den Angehörigen keinerlei Kontakte mehr.
Vorgeschichte: Als Folge schweren Alkoholkonsums war es zu einer Gehirnschädigung gekommen, die sich in Demenz-artigen Verhaltensweisen äusserte. Vor drei Jahren erlitt er einen Schlaganfall, als dessen Folge ein Bein geschwächt blieb. Harn- und Stuhlinkontinenz. Chronischer hoher Nikotinkonsum. Bei einem Krankenhausaufenthalt wurde ein ausgedehnter, beidseitiger Lungenkrebs mit zahlreichen Metastasen in Leber und Gehirn festgestellt. Von einem Tumor-spezifischen Therapieversuch wurde Abstand genommen und es wurde eine palliative Betreuung beschlossen. Der Patient gab bei häufigen Nachfragen nie Schmerzen an. Da er schon seit Monaten kein Interesse am Essen mehr hatte, magerte er ab, konnte aber mit kleinen Mengen hochkalorienhaltiger Flüssigkeitsnahrung ausreichend versorgt werden. Er blieb zunächst noch gehfähig und setzte sich gerne in den Speisesaal. Wurde er gebeten, etwas zu sich zu nehmen, reagierte er aber oft aggressiv. Es gab seit einiger Zeit einen gerichtlich bestellten Betreuer.
Motivation: Sein Zustand war nach der Krebsdiagnose für einige Monate einigermassen stabil. Dann bekam der Patient einen generalisierten Krampfanfall (als Folge der Hirnmetastasen). Anschliessend blieb er fast nur noch in seinem Zimmer, meistens im Bett. Er schien, nach seinen knappen Äusserungen zu schliessen, diesen Zustand stoisch hinzunehmen und behauptete weiterhin, keinerlei Schmerzen zu haben. Es gab keine Hinweise darauf, dass der Patient eines Tages beschlossen hätte, sein Leben vorzeitig zu beenden und dafür nach einem Weg zu suchen. Vielmehr ist von einer spontanen, mehr oder minder unreflektierten Entscheidung auszugehen.
Grund für die Wahl des Sterbefastens: Aus dem mentalen und physischen Zustand dieses Patienten ergab sich der Nahrungs- und Flüssigkeitsverzicht sozusagen von selbst. Von einem Sterbefasten im Sinne der meisten anderen Fälle, also aufgrund einer klaren Entscheidung, kann man hier eigentlich nicht sprechen.
Entscheidungsfindung: Der Patient fragte niemanden, sondern entschied ganz für sich. Seine Angehörigen einzubeziehen lag fern, da kein Kontakt mehr bestand. Gegenüber dem Arzt, zu dem ein vertrauensvolles Verhältnis bestand, hatte er keine Andeutung gemacht, dass er nun sterben wolle oder werde. Als die Situation dem Arzt und dem Heim klar geworden war, wurde der Betreuer konsultiert. Dieser war damit einverstanden, dass man den Patienten gewähren liess und ihn nur noch pflegerisch beziehungsweise palliativmedizinisch betreute. Das Heim wünschte daraufhin, dass sich die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV, ein regionaler Verbund von Klinik, Hausarzt, Palliative Care-Team sowie auf Wunsch ambulantem Hospizdienst), an der Versorgung des Sterbenden beteiligte. Bei der SAPV sah man hierfür allerdings keine Indikation und lehnte ab.
Schwierigkeiten: Der Patient erlitt am 4. Tag des Sterbefastens mehrere generalisierte Krampfanfälle, die mit Diazepam gut beendet werden konnten. Danach waren Puls- und Atemfrequenz die meiste Zeit erhöht.
Pflegerische Unterstützung: Offenbar wurde vom Arzt und vom Heim die Tatsache, dass der Patient nicht mehr ass und trank, rechtzeitig als eine neue Situation mit besonderen Anforderungen erkannt. Die Mundpflege erfolgte kompetent und regelmässig, etwa alle ein bis zwei Stunden. Auch in der Zeit vor dem Sterbefasten war der Patient bereits sehr gut gepflegt worden (zum Beispiel wurden die Inkontinenzvorlagen etwa 5-mal pro Tag gewechselt). Ein wiederkehrendes Problem war allerdings, dass sich den Pflegenden die Sorge, der Patient leide unter Schmerzen, nicht nehmen liess.
Ärztliche Unterstützung: Der Arzt besuchte den Patienten in der Sterbephase fast jeden Tag und sprach auch immer wieder mit den Pflegekräften, um diese zu beruhigen. Auch deshalb unterblieb der bei Heimen in solchen Situationen nicht seltene Vorschlag, noch eine Flüssigkeitssubstitution zu versuchen.
Dauer: 7 Tage. Der Patient hatte die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit im Verlauf der ersten drei Tage nach und nach verringert und sie dann gänzlich eingestellt.
Tod: Der Patient verschied vollkommen friedlich im Schlaf. Bereits am Vortag hatte er auf Ansprache nur noch mit Augenzucken reagiert.
Bewertung seitens des Sterbenden: Es gibt dazu keine Aussagen von ihm.
Sicht der Angehörigen im Rückblick: Auch hierzu sind keine Aussagen bekannt.
Anmerkungen: Dies ist offensichtlich ein Grenzfall. Man kann sich fragen, ob bei diesem Patienten einfach die Sterbephase begonnen hatte. Es war aber insofern ein freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, als der Patient zu deren Aufnahme physisch noch in der Lage gewesen wäre. Andererseits fehlte ihm schon lange (seit über einem Jahr vor seinem Tod) jeglicher Appetit, auch auf Getränke. Eine klare Einsicht in sein Handeln hatte er wohl nicht mehr, aber sein gänzliches Aufhören mit Essen und Trinken entsprang nicht etwa einer irrigen, womöglich bedrängenden Vorstellung. Auch gab es keinerlei Fremdbeeinflussung.
Quelle: Persönliche Mitteilung des Arztes, der den Patienten betreut hat (Facharzt für Allgemeinmedizin mit Zusatzqualifikation für hausärztliche Palliativmedizin)