Persönlichkeit: Eine noch im Alter vielseitig interessierte Frau, die durch tägliche Zeitungslektüre am Computer noch rege am gesellschaftlichen Geschehen teilnahm. Sie hatte gute Nachbarschaftskontakte und pflegte die familiären Beziehungen durch häufige E-Mails. Sie war literarisch und musikalisch sehr interessiert und spielte noch sehr gut Klavier. Seit einem Jahr war sie Witwe.
Vorgeschichte: Ihr Mann war vor fünf Jahren demenzkrank ins Pflegeheim gekommen. Sie besuchte ihn nur selten, weil sie die dortige Atmosphäre als sehr unangenehm empfand. Für sich selber lehnte sie eine Existenz im Pflegeheim kategorisch ab. Im Übrigen gehörte sie schon seit Jahrzehnten einer Right-to-die- Organisation an. Seit einem Jahr häuften sich bei ihr Stürze (aus unbekannten Gründen) mit mehrfachen Knochenbrüchen. Da sie bei der Rehabilitation meist zu wenig Geduld hatte, blieb sie am Oberkörper nachhaltig geschwächt, so dass sie schliesslich nicht mehr alleine aufstehen konnte, wenn sie hinfiel. Eines Tages erlitt sie einen Schlaganfall und blieb rechtsseitig gelähmt. Nach mehrwöchiger Rehabilitation zwecks Stärkung der gesunden Seite sollte die Patientin eigentlich in eine Umgebung mit besonderer pflegerischer Versorgung wechseln.
Motivation: Die Patientin hatte aber inzwischen festgestellt, dass ein Weiterleben in permanenter Abhängigkeit von Pflege für sie unerträglich war, hatte sie doch bis ins hohe Alter völlig selbständig gelebt und dies sehr genossen. Nicht zuletzt beim Toilettengang empfand sie es als entwürdigend, auf andere angewiesen zu sein.
Grund für die Wahl des Sterbefastens: Die hinzugezogene Expertin Judith K. Schwarz, der wir den Bericht verdanken, erklärte der Patientin und ihrer Tochter, dass in dieser Situation für das Beenden des Lebens nur die Option des Sterbefastens legal möglich sei.
Entscheidungsfindung: Obwohl die Tochter seit langem damit vertraut war, dass ihre Mutter irgendwann sagen werde, «genug ist genug», konnte sie sich zunächst mit deren Wunsch, jetzt zu sterben, nicht abfinden. Die Situation wurde mit anderen Familienmitgliedern, dem Vorsitzenden der Right-to-die-Organisation und der erwähnten Expertin ausgiebig diskutiert. Diese hatte sich überzeugt, dass der Sterbewunsch der Mutter im Einklang mit ihren Werten und ihrem Anspruch stand, «zu ihren Bedingungen» zu sterben. So begann man schliesslich, die Voraussetzungen für das Sterbefasten zu schaffen, wozu die Patientin erst einmal («auf eigenes Risiko») aus der Reha-Klinik entlassen wurde.
Schwierigkeiten: Die Rückkehr in die eigene Wohnung hellte die Stimmung der Patientin erheblich auf. Auf die Instruktionen zum Sterbefasten wollte sie sich nun nicht mehr so recht einlassen. Sie war ungeduldig und war sich absolut sicher, dass die Sache doch in vier Tagen erledigt sein werde. Vor allem genoss sie den regen Besuch, den sie jetzt «von morgens bis abends» erhielt. Sie begann mit dem Fasten zwar bereits am Tag ihrer Rückkehr, tat sich aber mit dem Flüssigkeitsverzicht zunehmend schwer. Auch glaubte sie nicht so recht, dass dieser wirklich nötig sei, und sie war auch mental dauernd auf diesen Punkt fixiert. Am dritten Tag befiel sie eine extreme Unruhe. Um diese zu lindern stand kein Medikament zur Verfügung, und am vierten Tag erklärte die Patientin , dass sie nun doch lieber weiterleben wolle. Dies war ein Schock für die Tochter, obwohl sie selbst ja die Mutter zuvor darauf hingewiesen hatte, dass man das Sterbefasten auch wieder abbrechen könne. In den anschliessenden (ca. drei bis fünf) Wochen wurde eine optimale pflegerische Versorgung eingerichtet. Die Patientin erkannte indessen allmählich, dass sich ihre Lage trotz allem nie mehr bessern würde. So entschloss sie sich erneut zum Sterbefasten. Alle Beteiligten trafen nun dafür noch bessere Vorbereitungen als beim ersten Mal. Es wurden fast keine Besucher mehr zugelassen, weil dies möglicherweise die Patientin zu sehr angeregt hätte.
Pflegerische Unterstützung: Eine Frau, die bereits zuvor Patienten beim Sterbefasten betreut hatte, unterstützte die Tochter bei der Betreuung.
Ärztliche Unterstützung: Der Arzt liess sich zunächst über das Sterbefasten und eventuelle rechtliche Probleme aufklären. Er bestand auf einer Verfügung seitens der Patientin, die gegebenenfalls bewies, dass diese sich freiverantwortlich fürs Sterbefasten entschieden hatte. Er veranlasste regelmässige Gaben geringer Morphin-Dosen (unter die Zunge), weshalb die Patientin etwas schläfrig war und keine Anzeichen von irgendwelchen Schmerzen zeigte.
Dauer: 11 Tage
Tod: Die Patientin schlief am Ende friedlich ein. Die Tochter hielt ihre Hand.
Bewertung seitens der Sterbenden: Der schwierige Weg war für sie am Ende doch die einzig richtige Entscheidung. Sie wollte, dass ihre «Geschichte» später veröffentlicht werde.
Sicht der Angehörigen im Rückblick: Die Tochter, die durch die Autorin in dieser schwierigen Zeit mitbetreut wurde und auf deren Anraten ein Berichtsheft führte, war erleichtert und glücklich, dass sich im zweiten Anlauf der verständliche Wunsch ihrer Mutter erfüllen liess. Auch sie wünschte, dass über diesen Fall berichtet werde.
Anmerkungen: Dass das Sterbefasten am Ende gut verlief, ist schon dank der Unterstützung durch mehrere Personen, die dazu bereits Erfahrungen hatten, nicht verwunderlich. Ein Hauptgrund für das Scheitern des ersten Anlaufes lag wohl darin, dass die Gemütslage der Patientin nach der Rückkehr ins eigene Heim und dank der zahlreichen Abschiedsbesuche gespalten war: Einerseits schien sich nun doch eine lebenswerte Perspektive aufzutun; andererseits hatte sie sich jedoch zum Sterben entschlossen und war es sich offenbar schuldig, diesen Beschluss umzusetzen, aber eben nur halbherzig.
Quelle: Judith K. Schwarz (2016): Sarah’s Second Attempt to Stop Eating and Drinking: Success at last. Narrative Inquiries in Bioethics 6(2):99 -101.