Persönlichkeit: Eine dominante, draufgängerische und sozial engagierte Frau; seit dem 55. Lebensjahr Witwe. Sie war vor einigen Jahren in ein Appartement einer «continuing care retirement community» (ähnlich unserem «betreuten Wohnen») eingezogen und hatte sich dort hervorragend sozialisiert.
Vorgeschichte: Nach vielen Jahren bester Gesundheit wurde einige Monate vor ihrem 88. Geburtstag ein Karzinom in Mund und Kiefer diagnostiziert. Es wurde dann eine zweimonatige Chemotherapie in Kombination mit Bestrahlung durchgeführt. Der Patientin ging es danach nicht sonderlich gut, und nach ca. zwei Monaten zeigte es sich, dass die Therapie erfolglos gewesen war, der Krebs sich weiter ausbreitete und die Lebenserwartung nun nur noch mehrere Monate betrug.
Motivation: Sie fürchtete sich vor Entkräftung und Schmerzen, die sie im Endstadium der Erkrankung erwarteten.
Grund für die Wahl des Sterbefastens: Da sie sich in letzter Zeit mit Essen und Trinken sehr schwer tat, kam ihr die Idee, das Essen ganz einzustellen, und sie liess sich dazu von einem Arzt beraten. Dieser und ihre Tochter fanden über das Internet Publikationen, die besagten, dass man auch mit dem Trinken aufhören sollte, wenn man sterben will, dass das Durstproblem beherrschbar ist und dass diese Form des begleiteten Sterbens friedlich verlaufen kann.
Entscheidungsfindung: Für die Kinder war der Wunsch der Mutter zunächst sehr bedrückend; sie wollten eigentlich nicht, dass sie jetzt schon sterben würde. Da sie aber den Sterbewunsch letztlich nachvollziehen konnten, akzeptierten sie ihn bald. Es gab daher keine langen Abwägungen, zumal der Krebs bereits auf die Luftröhre drückte.
Schwierigkeiten: Dass die Entscheidung ziemlich kurzfristig kam, brachte organisatorische und zum Teil menschliche Schwierigkeiten mit sich. Ein eilends engagierter ambulanter Hospizdienst musste erst Instruktionen erhalten, wie man Sterbefastende pflegerisch betreut. Die Hospizhelferinnen schlugen beispielsweise vor, Essen und Trinken ganz allmählich einzustellen. Dies zögert jedoch erfahrungsgemäss den Sterbevorgang hinaus und hätte unter anderem auch eine längere Dauer des Hungergefühls zur Folge gehabt.
Pflegerische Unterstützung: Der Hospizdienst betreute die Patientin dann sehr gut. Ihre beiden Töchter kamen täglich zu Besuch und halfen mit, nicht zuletzt bei der Mundpflege.
Ärztliche Unterstützung: Der Arzt hatte ausser der anfänglichen Beratung der Familie sowie der Belehrung der Hospizkräfte nichts zu tun, da die Patientin über keine Leiden oder etwa Ängste oder Schlafprobleme zu klagen hatte.
Dauer: 12 Tage
Tod: Noch am Vortag war sie weitgehend ansprechbar; dann schlief sie ein, um nicht mehr aufzuwachen.
Bewertung seitens der Sterbenden: Es ging der Patientin, nachdem sie sich für das Sterbefasten entschieden hatte, sofort psychisch sehr viel besser. Sie blühte in der Folge geradezu auf und empfing zahlreiche Besuche von Familienmitgliedern sowie von Freundinnen und Freunden. Sie diskutierte immer wieder entspannt das Sterben.
Sicht der Angehörigen im Rückblick: Die Tochter, die den Fall berichtete, merkte an: «Meine Mutter lehrte uns so vieles ihr ganzes Leben lang, aber vor allem in diesen letzten 12 Tagen. Ihre Gelassenheit zu erfahren, ihren Humor und ihre Weisheit … waren eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde.»
Anmerkungen: Die Sterbende wurde von den Angehörigen als eine ganz ausserordentliche Persönlichkeit geschildert. Wenn man diesen Fall als ein Idealbeispiel betrachtet, bleibt daher zu bedenken, dass nicht jede Person, die den Weg des Sterbefastens zu gehen gedenkt, die gleiche Erfahrung machen kann. Möglicherweise wurde der Bericht vom Verlauf des Sterbefastens auch ein wenig zu positiv verfasst.
Quelle: Susan Schaffer with Elliott Schaffer and Janet Malek (2016): Life and Death on Her Own Terms. Narrative Inquiries in Bioethics 6(2): 96 – 99, 2016.