Persönlichkeit: Eine selbstbewusste Frau, von Beruf Klavierlehrerin und viele Jahre auch Schulpsychologin, die sehr diszipliniert und stets darauf bedacht war, sich ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Sie war hochsensibel und konnte sich gut in andere Menschen einfühlen, «was mir in meinem Beruf sehr zugute kam». Obwohl sie nie heiratete, pflegte sie viele Freundschaften, vertrug es aber auch, wenn eine freundschaftliche Beziehung – manchmal plötzlich – endete. Im Alter belasteten sie zuweilen unerfreuliche Kindheitserfahrungen. Sie hatte eine Schwester, zu der aber kein Kontakt bestand.
Vorgeschichte: Nach einem lange Zeit überwiegend schönen Leben kam es nach der Pensionierung zu gesundheitlichen Problemen: Zeitweilig Herzflimmern, öfters Kopfweh, unter anderem auch Appetitlosigkeit. Sie brachte dies mit Elektrosmog in Verbindung und kaufte sich schliesslich eine zweite Wohnung in einer kleineren Ortschaft, wo es ihr dann besser ging. In diesem Ort war sie aber auch nach 20 Jahren noch nicht heimisch geworden. Als dann noch die Corona-Pandemie ausbrach und sie nicht mehr unterrichten konnte, fühlte sie sich extrem isoliert – oft wie «lebendig begraben».
Motivation: Im April 2021 rutschte sie auf eisigem Boden aus und brach sich das linke Schultergelenk. Es hätte monatelang therapiert werden müssen, was sie aber nicht mehr wollte. Für sie war dieser Sturz ein Zeichen, dass ihr Lebenslauf am Ende angelangt sei: «Wir sind nur Gast auf Erden. Wenn es Zeit ist zu gehen, sollte man dies tun.»
Grund für die Wahl des Sterbefastens: Schon während des Spitalaufenthaltes eröffnete sie dem behandelnden Arzt, sie wolle eigentlich lieber sterben. Der Arzt reagierte schroff: Dafür sei er nicht da, er müsse Leben erhalten und nicht beenden. Eine Ärztin schrieb ihr hingegen einen Bericht für die Sterbehilfeorganisation EXIT, behauptete darin allerdings, seit dem Unfall sei die Patientin depressiv, «was gar nicht stimmte.», wie diese feststellte. EXIT verlangte folglich ein psychiatrisches Gutachten über ihre Urteilsfähigkeit, was sie jedoch vehement ablehnte: «Meine schlechten beruflichen Erfahrungen mit der Psychiatrie sagten mir, dass ich mit dieser Fachrichtung nichts zu tun haben will.» Sie suchte deshalb nach einer anderen Möglichkeit, ihr Leben zu verkürzen und entschloss sich fürs Sterbefasten. Sie hatte ohnehin schon seit zwei Monaten kaum mehr gegessen und täglich weniger als einen Liter getrunken, denn: «Ich wollte mich gewissermassen langsam aus dem Leben schleichen.»
Entscheidungsfindung: Eine langjährige Freundin und ehemalige Arzthelferin hatte ihr gesagt, das Sterbefasten sei eine gute Möglichkeit, selbstbestimmt zu sterben. Diese vermittelte ihr – die selber keinen Computer besass – Informationen von sterbefasten.org. Daraufhin wandte sich die Sterbewillige auch an den für diese Webseite Hauptverantwortlichen. Dies alles förderte ihren Entschluss, und als ihre Entscheidung fürs Sterbefasten stand, verzichtete sie sofort völlig aufs Essen und nach vier Tagen auch weitgehend aufs Trinken. Vorsorglich ordnete sie alle Unterlagen und schrieb ein Testament. Zusätzlich zur Patientenverfügung hielt sie in einem besonderen Dokument fest, dass sie nun sterbefasten werde und bei einem Notfall nicht in ein Krankenhaus verlegt werden wolle.
Schwierigkeiten: Gleich an einem der ersten Tage wollte eine Schulfreundin sie anrufen. Da diese sie nicht erreichte, alarmierte sie die Polizei. Mit grosser Beharrlichkeit gelang es der Patientin, zu verhindern, dass jemand für professionelle Hilfe engagiert wurde; tatsächlich pflegte sie sich bis zuletzt selbst.
Pflegerische Unterstützung: Eine mit ihr befreundete Familie wollte die Pflege nicht übernehmen, da sie im Testament bedacht war und ihre Hilfe beim Sterben hätte falsch ausgelegt werden können. Sie hielten aber bis zum letzten Tag regen Kontakt mit gelegentlichen Besuchen und vielen Telefonaten. Alle hofften darauf, dass die Sterbephase nicht allzu lang dauern werde. Obwohl die Patientin zu Beginn des Sterbefastens nur noch 44 kg wog und binnen einer Woche weitere sechs Kilogramm verlor, konnte sie bis zuletzt selbständig ins Bad gehen. Abends wechselte sie gelegentlich in ein anderes Zimmer zum Fernsehen. Bis zuletzt wollte die inzwischen unter 35 kg wiegende Frau keine Hilfe anfordern; trotz grosser Müdigkeit versorgte sie sich immer noch selbst. Auch die Mundpflege konnte sie selbständig durchführen: Eiswürfel und Orangenschnitze brachten ihr wenig, doch leckte sie öfters an kleinen Zitronenstückchen; ferner verwendete sie ein medizinisches Mundgel, das sie täglich mehrmals in den Mund sprühte. Zudem spülte sie den Mund öfters mit Wasser, das sie danach wieder ausspie.
Ärztliche Unterstützung: Das Vertrauen in die Ärztin, die den Bericht für EXIT geschrieben hatte, war nicht mehr gegeben. In der Nähe wohnte jedoch eine andere Ärztin, die informiert wurde und sich bereit erklärte, bei Bedarf nach der Patientin zu sehen. Es kam jedoch zu keinem Besuch; die Ärztin wurde erst nach dem Tod herbeigerufen.
Dauer: 17 Tage
Tod: Da niemand zugegen war, ist nicht bekannt, wie sie verstarb. Als die Patientin aufgefunden wurde, gab es keine Anzeichen für eine Agonie.
Bewertung seitens der sterbenden Person: Nach einer Woche: «In früheren Jahren habe ich mit Heilfastenkuren gute Erfahrungen gemacht. Der Verzicht auf Essen und Trinken fiel mir daher leicht, vielleicht auch, weil ich ja schon zuvor wenig gegessen und getrunken habe. Ich habe keine Schmerzen und vertrage das Sterbefasten gut. Es ist für mich wie ein Traum, dass ich so gehen darf, so selbstbestimmt und ruhig.» Nach zwei Wochen: «Ich fühle mich sehr müde, habe aber ausser einem trockenen Mund und gelegentlichem Herzrasen keine Beschwerden. Hin und wieder verspüre ich Hungergefühle. Es ist dennoch eine Tortur, weil es so lange dauert.»
Sicht der befreundeten Familie im Rückblick: Sie verfügte über sehr viel Eigendisziplin und war selbstbestimmt bis zum Schluss. Es war insgesamt ein gutes Sterben und entsprach völlig ihrem Willen.
Anmerkungen: Zunächst soll die Biografie der Verstorbenen im Folgenden noch etwas ergänzt werden.
Dass sich die Patientin bis zuletzt selber pflegen konnte, ist eine sehr ungewöhnliche Leistung beim Sterbefasten. Vielleicht hatte sie doch immer wieder einige Kalorien zu sich genommen. Das Erwähnen gelegentlicher Hungergefühle könnte ein Hinweis darauf sein, denn generell wird davon ausgegangen, dass bei konsequentem Kalorien-Verzicht das Hungergefühl nach zwei bis drei Tagen dauerhaft verschwindet (Ausnahmen mag es von dieser «Regel» vielleicht geben). Relevant dürfte auch die Tatsache sein, dass der Körper der Patientin sich vor Beginn des Sterbefastens schon längere Zeit an nur noch minimale Nahrungsaufnahme gewöhnt hatte.
Quelle: Vier lange Telefongespräche von P.K. mit der Patientin zu Beginn und während des Sterbefastens; Telefonate von P.K. mit der Mutter der Familie, die auch während des Sterbefastens regelmässig Kontakt mit der Verstorbenen hielt.