Besonders wichtig ist der jungen Juristin Lenka Ziegler der «Diskurs zwischen Autonomie und Fürsorge». Sie beleuchtet daher in ihrer Dissertation nicht nur die besondere Form des Sterbefastens, sondern auch andere naheliegende Themen wie etwa die juristischen Grundlagen des Arzt-Patienten-Verhältnisses und vor allem das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde am Lebensende. Die Situation der Angehörigen und die Rolle der Ärzte /Ärztinnen sowie der Pflegenden werden in Folgekapiteln ebenfalls ausführlich dargestellt.
Substantiell und breit gefächert, wenn gelegentlich auch etwas praxisfern sind zudem die Überlegungen, warum sich Menschen zum Sterbefasten entschliessen. Ziegler hinterfragt beispielsweise die oft aus psychiatrischen Kreisen geäusserte Bemerkung «niemand kann sich den eigenen Tod wirklich wünschen»: Sie postuliert, dass auch die meisten psychisch Kranken urteilsfähig sind und sich deshalb zum FVNF entschliessen können.
Nur drei FVNF-Beispiele
Im zweiten Teil der Dissertation stellt Ziegler den rechtlichen Rahmen und die Regelung des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF oder Sterbefasten) vor. Vorab schildert sie drei recht ähnlich verlaufende Fallbeispiele, die ihr typisch erscheinen. Dies sind sie jedoch nur teilweise, wie etwa der Vergleich mit dem von palliacura geförderten Buch «Sterbefasten» zeigt, wo 25 sehr unterschiedliche Fallbeispiele geschildert werden. Das Buch lag während der Entstehungszeit der Dissertation zwar noch nicht vor, wohl aber die von uns seit 2014 betriebene Website sterbefasten.org: Dort hätte Ziegler über 20 Fallbeispiele gefunden, Geschichten, welche die ganze Breite der Verlaufsmöglichkeiten zeigen und in denen auch schwierige Situationen festgehalten sind. Ungeachtet dessen ist die weitere Auslegeordnung im Sterbefasten-Kapitel der Dissertation aus juristischer Sicht umfassend und zudem sehr vorsichtig beurteilt. Anders als einige deutsche Juristen, die den FVNF zum Vornherein klar als Suizid bezeichnen, wägt Ziegler das Für und Wider sorgsam ab.
FVNF als eigenständige Form
Lenka Ziegler vertritt in ihrem wissenschaftlichen Werk deshalb jene Sichtweise, «die den FVNF als eine eigenständige Form des selbstverfügten Sterbens sui generis betrachtet». Sie bestärkt damit das Vorgehen der meisten Ärzte und Ärztinnen in der Schweiz, die nach einem beendeten Sterbefasten und nach der Leichenschau auf der Todesbescheinigung einen natürlichen Todesfall ankreuzen. Anders als bei einem EXIT-Todesfall muss deshalb weder Polizei noch Amtsarzt am Totenbett erscheinen. In einem kurzen abschliessenden dritten Teil listet die Juristin Optimierungsmöglichkeiten auf: Lenka Ziegler fordert beispielsweise verbesserte Aus- und Weiterbildungen im medizinischen Bereich, mehr wissenschaftliche Forschung zum FVNF oder Möglichkeiten zum Sterbefasten in Altersinstitutionen und Pflegeheimen.
PETER KAUFMANN
Erstveröffentlichung: EXIT-Info 4/2023
Buch:
Lenka Ziegler «Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als Form des selbstbestimmten Lebens. Diskurs zwischen Autonomie und Fürsorge». 394 Seiten. Helbing Lichtenhahn Verlag, 2022. CHF 78.-