Sterbefasten- Informationen zu FVNF 
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​Ein sanfter, kein grausamer Tod

Von Christian Walther

Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben durch den bewussten Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit zu beenden. Unser Autor zeigt, warum dies nicht mit einem grausamen Tod verbunden ist, und gelangt zur Konsequenz, dass der Verzicht auf künstliche Versorgungsmassnahmen auch für Menschen mit Demenz eine gute Form der Lebensbeendigung sein kann.

Artikel aus «Dr. med. Mabuse», August 2014

Seit Urzeiten dürfte es immer wieder vorgekommen sein, dass alte, leidende oder einfach lebenssatte Menschen intuitiv entschieden, durch Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ihrem Le­ben vorzeitig ein Ende zu setzen. In der indischen Kultur wurde diese Form des Sterbens im religiösen Kontext thematisiert und in deutschen Übersetzungen alt-indischer Texte als «Sterbefasten» bezeichnet.1 Da es sich um eine dem Menschen von Natur aus gegebene Möglichkeit des selbst gewählten Sterbens handelt, kann man es als natürliche Alternative zum Suizid oder, verkürzt, als «natürlichen Suizid» auffassen.2

Vom Sterbefasten lernen

Wer in einer Patientenverfügung festlegt, dass bei ihm3 keinerlei künstliche Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit vorzunehmen ist, der muss sich zumindest sicher sein, dass dies für ihn später nicht mit grossem Leiden, vor allem durch Durst, verbunden sein wird. Doch kann er dies? Diese Frage bedrängt oft auch diejenigen, die bei einem nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten über eine künstliche Versorgung, etwa mittels einer PEG-Sonde, zu entscheiden haben. Verzichtet man auf diese Massnahme4, so möchte man darauf vertrauen können, dass dadurch dem Patienten nichts Schreckliches zugemutet wird, zumal sich dies dann möglicherweise nicht eindeutig erkennen lässt. Werden nicht immer wieder die Verantwortlichen von Ängsten vor einem grau­samen Verhungern und Verdursten überwältigt?5 Und ist die im Titel enthaltene Behauptung «kein grausamer Tod» überhaupt zu verantworten?

Dass es sich hierbei in vielen Fällen um einen «sanften Tod» handelt, gründet auf den zahlreichen Berichten von Menschen, die durch das Sterbefasten bewusst aus dem Leben geschieden sind.6 Hieraus kann man lernen, dass vor allem drei Voraussetzungen unbedingt erfüllt sein müssen, damit das Versterben durch Flüssigkeitsverzicht tatsächlich sanft und friedlich verläuft7:

- eine kompetente pflegerische Unterstützung, vor allem eine gute Mundpflege;

- ein verständnisvolles Begleiten und Abschiednehmen seitens der Angehörigen und anderer;

- die Option auf palliativ-medizinische Unterstützung durch einen verständnisvollen Arzt.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so erlebt der Sterbende die ersten Tage oft sehr klar und intensiv. Er und seine Vertrauten können den Abschied positiv gestalten; zudem kann man in dieser Phase den Entschluss, zu sterben, noch rückgängig machen. Anschliessend kann das Erdulden des Flüssigkeitsverzichts manchmal beschwerlich werden, sodass ärztliche Erleichterung hilfreich ist. Gegen Ende kann die Kommunikationsfähigkeit stark abnehmen. Der Tod kommt – nach etwa einer bis drei Wochen – friedlich im Schlaf.8

Damit sich jeder selbst ein Bild davon machen kann, wie Sterbefasten verlaufen kann, werden auf Internetseite www.sterbefasten.org reale Fallbeispiele gesammelt und in Kurzform vorgestellt. Jede/r LeserIn kann sich somit, unabhängig vom eigenen Kenntnisstand und der persönlichen Einstel­lung zu diesem Thema, kundig machen.9

Eine Mauer des Schweigens

Als 2009 der Ernst Reinhardt Verlag beschloss, das Thema Sterbefasten in Form eines Buches10 öffentlich bekannt zu machen, war dies ein Tabubruch. Jedoch erhielt das Buch alsbald in einigen Fachzeitschriften11 durchweg positive Besprechungen. Ablehnung kam lediglich von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung12, die dazu hämisch anmerkte: «Der Mensch hört erst auf, nach Tipps zur Lebensbewältigung zu suchen, wenn er eins achtzig tiefer liegt. Aber selbst dahin wird er mittlerweile auf den Händen einer vollkommen enttabuisierten Buchindustrie getragen»; beim Sterbefasten handele es sich um «das organisierte Verrecken durch Verdursten und Verhungern». Medizinische Fachgesellschaften und Verbände wie etwa der Deutsche Hospiz- und Palliativverband oder die Bundesärztekammer vermieden mehrere Jahre jedwede Verlautbarung und bildeten eine Mauer des Schweigens. Erst 2014 stellte das Deutsche Ärzteblatt das Thema Sterbefasten ausführlich vor13, und auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin wies nun wohlwollend auf diese Möglichkeit hin.14

Unterlassen künstlicher Flüssigkeitsversorgung bei Dementen

Man ist sich heute weitgehend darüber einig, dass bei Sterbenden nur noch etwas gegen ein eventuelles Durstgefühl unternommen werden muss (wozu hinlänglich bekannte Mittel zur Verfügung stehen15), eine lebensverlängernde Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit aber nicht mehr indiziert ist.16 Bei alten Menschen – auch solchen mit Demenz – nimmt bekanntlich die Bereitschaft, zu essen und zu trinken, im Laufe der Zeit ab. Irgendwann kann die Situation eintreten, dass die orale Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit nicht mehr ausreichend möglich ist und entschieden werden muss, ob zu künstlicher Versorgung übergegangen werden soll. Sind die Betroffenen wegen eines extremen körperlichen Leidens oder beispielsweise nach einem Schlaganfall nicht mehr einwilligungsfähig, so ist für die Verantwortlichen die Entscheidungsfindung zwar manchmal schwierig; sie erfolgt heute aber in weitgehend standardisierten klinischen Fallbewertungen anhand etablierter ethischer Leitlinien.17 Sind die Betroffe­nen jedoch aufgrund einer Demenz nicht mehr einsichtsfähig, besteht – wie wir sehen werden – noch immer grosse Unsicherheit.18

Verschiedene Forscher kommen zu der Folgerung, dass eine PEG-Sonde speziell für schwer demente Patienten mehr Leid als Annehmlichkeit bedeute und zu sehr belastenden Komplikationen führen könne.19 In den Niederlanden befasste sich eine Forschergruppe mit dem Unterlassen künstlicher Ernährung und Flüssigkeitsversorgung bei solchen Patien­tInnen.20 Zu dem Zeitpunkt, an dem die Entscheidung gegen eine künstliche Ernährung getroffen wurde, litten zwei Drittel der Patienten unter einer akuten Erkrankung, zum Beispiel einem Schlaganfall, einer Infektion der unteren Atemwege oder einer Harnwegsinfektion. 59 Prozent von ihnen starben innerhalb einer Woche, 28 Prozent bereits nach ein bis zwei Tagen. Diese kurze Überlebenszeit spricht dafür, dass die Patienten sich bereits in einem sehr schlechten Zustand befanden und dem Tode nahe waren. Dass eine Fortsetzung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung in diesen Fällen den Tod noch hinausgeschoben hätte, ist sehr fraglich.21 Den Studienergebnissen zufolge war die Entscheidung gegen künstliche Ernährung und Flüssigkeitsversorgung vor allem für die Angehörigen problematisch: Sie brauchten meist einige Zeit, um sich auf die kritische Situation des Patienten und dessen bevorstehenden Tod einzustellen. Wenn die betreuenden ÄrztInnen dies berücksichtigten, konnte die Entscheidung aber fast immer einvernehmlich getroffen werden.

Insgesamt wird der Stand der Wissenschaft zu dieser Thematik jedoch von verschiedenen Seiten als nicht befriedigend bewertet, so auch von der Dt. Gesellschaft für Ernährungsmedizin, die dennoch zu dem Schluss kommt: «Bei Patienten mit schwerer und fortgeschrittener Demenz können Sonden- und parenterale Ernährung generell nicht empfohlen werden. Die Entscheidung muss jedoch in jedem Einzelfall individuell getroffen werden.»22

Ethos mit blindem Fleck

Letzterem stimmt auch Christian Kolb zu, ein anerkannter Experte für Fragen der Ernährung bei älteren, insbesondere dementen Menschen23, aber er merkt kritisch an: «In vielen Ländern ist es inzwischen Trend, eine PEG-Sonde für demente Menschen nicht mehr zu empfehlen. Doch wenn wir uns anschauen, auf welchen Daten diese restriktive Vorgehensweise basiert, ist es doch verwunderlich, wie man bei dieser Datenlage, bereits sehr klare Leitlinien aussprechen kann (…) Wenn wir auf PEG-Sonden bei diesen Menschen verzichten wollen, dann werden wir sicherlich einigen Menschen Leid ersparen, aber wir werden auch nicht mehr erleben, wie es Menschen gibt, welche noch ein Stück Zeit mit ihren Nächsten gewinnen durften (…) Wir brauchen nicht mehr oder weniger PEG-Sonden bei dementen Menschen, sondern mehr sinnvolle PEG-Sonden.»24

Kolb verliert jedoch kein Wort zur Fra­ge, wie es denn in den Fällen weitergeht, in denen gegen eine künstliche Versorgung entschieden wird. Er lässt somit diejenigen, die er beraten will, letztlich im Stich. Dies scheint auch bei anderen Stellungnahmen oder Empfehlungen zum Thema künstliche Ernährung ein durchgängiges Prinzip zu sein25 (Ausnahmen finden sich in einigen Büchern zum Sterbehilfethema26). Solange aber noch grosse Angst vor dem «Verrecken durch Verdursten und Verhungern» herrscht – vor allem bei Angehörigen, aber auch bei Pflegepersonal, das nicht hinreichend informiert ist – gibt möglicherweise die Befindlichkeit des Umfeldes und nicht das wahrscheinliche Patientenwohl den Ausschlag bei Entscheidungen für oder gegen eine künstliche Versorgung.

Zudem muss man auch immer den anstrengenden Alltag des Pflegepersonals (Zeitdruck!) im Blick behalten, obwohl die Situationen von Heim zu Heim und von Person zu Person recht unterschiedlich sind. Vielleicht erwartet man generell von einer Entscheidung gegen das Legen einer PEG-Sonde und für das Sterben-Lassen einen höheren Arbeitsaufwand.27 Eine sorgfältige Mundpflege, die beim Versterben durch oder unter Flüssigkeitsmangel unbedingt durchgeführt werden muss, ist bei manchen Menschen mit Demenz sicher äusserst schwierig.28 Dies sollte auf die Entscheidung normalerweise jedoch keinen Einfluss haben, denn selbst nach dem Legen einer PEG-Sonde bedürfen alle, die nicht immer noch ein wenig trinken, einer sorgfältigen Mundpflege.

Demenz ist keine Bürgerpflicht

Lassen wir noch einmal Kolb zu Wort kommen: «Ich habe viele Menschen gesehen, welche unter der künstlichen Ernährung auf ihre letzten Tage fürchterlich leiden mussten, aber ich habe auch Menschen gesehen, welche zumindest subjektiv glücklich erschienen, für mehr als nur sechs Monate; ob ihr Leben nun schlimmer war als der Tod, wer hat das Recht darüber zu urteilen?»29 Fragen wie diese werden derzeit sehr kontrovers diskutiert und sind seit Längerem auch Anlass für einen Streit über Sinn und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, die konkrete Festlegungen für den Fall einer Demenz enthalten. Zuweilen wird kritisiert, man masse sich durch solch eine Patientenverfügung an, über einen anderen Menschen mit Behinderung zu verfügen, der aus einem selbst später einmal hervorgehen werde.30 Dem darf man entgegnen: Wer, bitte, soll denn für mich, wenn ich später dement werde, eine grössere Zuständigkeit haben, als ich selbst, solange mein Verstand noch funktioniert? Genügt es nicht, irgendwann unmündig zu werden – muss man obendrein in Kauf nehmen, von vorneherein durch andere entmündigt zu werden?

Setzt man in seine Patientenverfügung Bestimmungen, die auf die Verkürzung einer eventuellen Demenzphase abzielen, so hat man keine Gewähr dafür, dass diese Festlegungen später eine Rolle spielen werden; es sei denn, eine Betreuungsperson hat zugesagt, für ihre Umsetzung einzutreten. Schon deshalb zieht mancher es vor, sich einer Demenz von vorneherein zu entziehen, indem er sein Leben vorzeitig beendet. Diese Absicht wird nur allzu leicht von denen, die sich fachlich und beruflich mit Demenz befassen, mit Bestürzung und Verärgerung aufgenommen. Verzichtet man doch – für sich selbst! – auf ihre Bemühungen, Dementen das Leben zu erleichtern. Schnell führt dies zur Unterstellung, man betrachte das Leben aller dementen Menschen als minderwertig und halte womöglich die Aufwendungen der Gesellschaft für diese Patientengruppe für entbehrlich.31 Es sollte übrigens nicht verwundern, wenn gerade diejenigen, die sich selbst um Demente, etwa in der Verwandtschaft, sehr bemüht haben, später für sich selbst eine solche Lebensphase ablehnen.

Zukunftsperspektiven

Die Wahrscheinlichkeit, dement zu werden, steigt mit dem Alter; von den über 80-Jährigen ist in Deutschland jeder Fünfte dement.32 Angesichts dessen sollte es in unserer Gesellschaft gleichermassen akzeptiert werden, wenn man einfach nicht als Dementer weiterleben möchte und sich daher vornimmt, rechtzeitig aus dem Leben zu scheiden; wenn man Demenz umgekehrt als naturgegebenes «4. Lebensalter»33 akzeptiert; wenn man sich mit der Perspektive der Demenz schlicht nicht befassen will und einfach abwartet, was kommt.

In einer nicht ganz fernen Zukunft wird es möglich sein, über das freiwillige Beenden seines Lebens so selbstverständlich zu entscheiden, wie über die Frage, ob man sich später eine Sarg- oder eine Feuerbestattung wünscht, die ja vor 100 Jahren von der Kirche noch als Problem gesehen und politisch bekämpft wurde. Ein kleiner Anteil der Bevölkerung wird sich im hohen Alter zum vorzeitigen Beenden des Lebens entschliessen, unter anderem, um einer Demenz zu entgehen.34 Dann werden die einen sich den Wunsch erfüllen, mithilfe eines Medikaments einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen, während andere das Sterbefasten als allmählichen Ausklang wählen: wie jener über 80 Jahre alte Wissenschaftler, über den die Hannoversche Allgemeine Zeitung 2012 berichtete35 und der den Entschluss, zu sterben, noch im Anfangsstadium der Demenz – anders als beispielsweise Walter Jens36 – in die Tat umzusetzen vermochte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr. 210, Juli/August 2014, S. 36–38.
www.mabuse-verlag.de


Anmerkungen

Vorbemerkung: Dem Artikel gingen umfangreiche Recherchen sowie Korrespondenz mit verschiedenen Experten voraus. Nützliche, hierdurch erhaltene Informationen werden den Lesern in Form von Endnoten zur Verfügung gestellt, allerdings ohne den Anspruch, diesen umfangreichen und komplexen thematischen Bereich hier umfassend abzubilden.

1

Wenn sich ein Jaina – Mönche oder Laie – zum Sterbefasten entschlossen hat, begibt er sich in die Obhut eines erfahrenen religiösen Meisters, um sich von ihm auf seinem Sterbeweg begleiten zu lassen und spricht folgendes: «Bitte unterrichten Sie mich, mein Herr! Ich bin gekommen, um sallekhana [dieses mittel-indische Wort wird vielfach mit «Sterbefasten» übersetzt; Anmerkung von C.W.] zu suchen, das Gelübde, das ich von nun an mein Leben einhalten werde. Ich fühle mich, was diese Angelegenheit betrifft, frei von allen Zweifeln und Ängsten. Ich verzichte von jetzt an bis zu dem Augenblick meines letzten Atemzuges auf Nahrungsmittel und Getränke jeglicher Art.» [Quelle: Marcus Banks: Jainismus, in: Religionen der Welt, Hrsg. Monika und Udo Tworuschka, 1992 Bertelsman Lexikon Verlag, Gütersloh]

2

Ärzte bevorzugen die Bezeichnung «Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit», abgekürzt FVNF, weil bei «Sterbefasten» nicht automatisch der Flüssigkeitsverzicht mit anklingt. Man hört mit dem Leben einfach auf, indem man ihm seine physiologischen Grundlagen entzieht. Allerdings ist es möglich – anders als bei einer Selbsttötung mit herkömmlichen Mitteln – sich nach einigen Tagen noch umzuentscheiden und noch eine Weile weiterzuleben. Man kann das Sterbefasten auch als «eine ganz eigene Handlungsweise» gegen Suizid abgrenzen, wie zum Beispiel Bickhardt und Hanke vorschlagen (Deutsches Ärzteblatt; siehe Endnote 13). Erst eine offizielle Verlautbarung der organisierten Ärzteschaft oder ein Gerichtsurteil könnten festlegen, ob Verbote, Gebote und Empfehlungen bezüglich Selbsttötung und deren Unterstützung auch für das Sterbefasten zu gelten haben.

3

Hier und im Folgenden wird vereinfachend das männliche Geschlecht verwendet.

4

Hiermit entscheidet man, das Leben eines anderen zu beenden durch Unterlassen einer potenziell lebensverlängernden Massnahme. Man verzichtet entweder von vorneherein, eine Sonde zu installieren, oder darauf, eine bereits vorhandene weiterhin zu nutzen. Letzteres fällt zum Beispiel Pflegekräften meist schwerer, als mit einer künstlichen Versorgung erst gar nicht zu beginnen.

Besteht bei dem Patienten bereits eine lebensbedrohenden Erkrankung, so wird man später nicht immer eindeutig sagen können, ob der Tod wirklich durch Mangel an Nahrung und Flüssigkeit verursacht oder früher herbeigeführt wurde; doch wenn die Entscheidung zu treffen ist, muss mit dieser Möglichkeit jedenfalls gerechnet werden. Etwas bedenklich mutet daher diese nicht ganz klare Aussage von H. Christof Müller-Busch an: «In der Kommunikation mit den Angehörigen sollte zum Beispiel in Pflegeheimen immer darauf geachtet werden, dass nicht Verhungern und Verdursten zum Tode führen, sondern die irreversible Erkrankungssituation, die ein terminales Stadium erreicht.» Siehe: Müller-Busch, H.C. (2013): Abschied braucht Zeit, 4. Aufl., Suhrkamp-Verlag, Berlin, S. 136.

5

Vergleiche hierzu etwa Lucia Schmidt (2013): «Soll er etwa verdursten? Wird jemand zum Pflegefall, muss oft die Frage nach lebensverlängernden Massnahmen geklärt werden. Das ist nicht leicht – selbst mit einer Patientenverfügung.» Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2013 https://www.faz.net

Hier ein Auszug, indem eine Palliativmedizinerin zitiert wird:

«Aus Erfahrung weiss Lohmann, dass unter Medizinern der Tod eines Patienten immer noch als Niederlage empfunden wird. Sie scheuen davor zurück, mit Schwerkranken und deren Angehörigen auch über die Option des Sterbens zu sprechen. Manches Mal wird in Kliniken und Heimen gar nicht erst nach einer Patientenverfügung oder Vollmacht gefragt, es wird einfach gehandelt, als gäbe es keine. Dabei ist eine Patientenverfügung rechtsbindend, wer sich nicht daran hält, macht sich strafbar. Und trotzdem kennt Lohmann viele Angehörige, denen es wie T.K. geht, denen es schwergemacht wird, den Willen ihres kranken Verwandten durchzusetzen. 'Wir können ihn doch nicht verhungern und verdursten lassen‘, wird Angehörigen entgegnet, wenn sie sich gegen eine künstliche Ernährung aussprechen. 'Das ist aktive Sterbehilfe‘, bekommen sie vorgeworfen, wenn sie Infusionen ablehnen. Äusserungen, die eine Entscheidungsfindung beeinflussen – insbesondere wenn sie von Ärzten stammen. Als 'vollkommenen Unfug‘ bezeichnet Lohmann solche Aussagen. 'Da fehlt es sowohl in Fachkreisen wie auch bei Laien an Aufklärung. Es gehört zu einem normalen Sterbeprozess, dass Menschen aufhören zu essen, aufhören zu trinken, sich immer mehr in sich zurückziehen‘, sagt sie. Die Natur habe den Körper in wundersamer Weise auf den Sterbeprozess vorbereitet. 'Bei Flüssigkeitsmangel werden Endorphine ausgeschüttet, es wird weniger Schleim und Urin gebildet. Alles entlastend für den sterbenden Organismus‘, erläutert Lohmann.»

Das Für und Wider eines Verzichts auf künstliche Flüssigkeitsversorgung bei sterbenden Patienten wird zum Beispiel in diesem Artikel erörtert: Brinkmann, Kl. (2005): Die terminale Dehydration. In: Die Schwester Der Pfleger 05/2005, S. 360-363.

6

Chabot, B., Walther, C. (2012): Ausweg am Lebensende Sterbefasten – selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. 3. Aufl. Ernst-Reinhardt-Verlag, München.

Die Aussagen in diesem Buch beruhen sowohl auf der Auswertung von knapp 100 Berichten über Niederländer, die durch Sterbefasten ihr Leben vorzeitig beendet hatten, als auch auf den von anderen Autoren publizierten Erfahrungen. Hervorzuheben ist hier ein Bericht über cetwa 100 Hospiz-Patienten in den USA, die durch Sterbefasten verstarben. Das Sterben dieser Patienten wurde von den Hospizschwestern, die diese betreut hatten, im Mittel als gut (das heisst mit 8 auf einer Skala von 1 bis 9) bewertet. Von dieser Studie ausdrücklich ausgeschlossen waren Fälle, in denen die Aufnahme aller Nahrung und Getränke aus anderen Gründen beendet wurde wie zum Beispiel Appetitverlust oder krankheitsbedingter Unfähigkeit, zu essen oder zu trinken. Ob und in welchem Masse die begleitenden Ärzte den Patienten das Sterbefasten durch palliative Massnahmen erleichtert hatten, wurde nicht berichtet. Siehe: Ganzini, L. et al. (2003): Nurses’ Experiences with Hospice Patients Who Refuse Food and Fluid to Hasten Death. New England J. Med. 349, 359-365.

Diese Veröffentlichung kann man kostenfrei aus dem Internet herunterladen:

https://www.nejm.org

7

Die Aussagen beziehen sich auf ältere, meist – doch nicht ausschliesslich – gesundheitlich bereits geschädigte Menschen. Auch wenn hierüber bisher wenig geforscht wurde, ist davon auszugehen, dass ein Trinkverzicht erst im höheren Alter keine schwer erträglichen Durstgefühle mehr hervorruft. Somit kann man nur solchen Menschen zum Sterbefasten raten. Es lässt sich aber keine Altersgrenze hierfür angeben, zumal hierzu noch kaum Erfahrungen vorliegen. Ein beeindruckender Fall ist das Sterbefasten der Marion M., welches vom Medienprojekt Wuppertal dokumentiert wurde:

https://www.medienprojekt-wuppertal.de/v_184

Dieser Film wurde 2013 und 2014 verschiedentlich öffentlich gezeigt und diskutiert. Marion M. war erst 56 Jahre alt und hatte zeitweilig durchaus Durstprobleme; dennoch wurde ihr Sterben von ihr und ihren Angehörigen als gut empfunden.

In den Niederlanden wurde 2014 seitens der Königlichen Niederländischen Vereinigung zur Förderung der Medizin (KNMG) eine Empfehlung veröffentlicht werden, wie Ärzte mit Patienten umgehen sollen, die sich mit dem Wunsch, das Leben durch Sterbefasten vorzeitig zu beenden, an sie wenden.

8

Dies ist eine stark schematisierende Beschreibung. Um sich ein differenzierteres Bild zu verschaffen, sei noch einmal auf das Buch «Ausweg am Lebensende» von Chabot und Walther verwiesen (siehe Endnote 6). Als Komplikationen können manchmal zum Beispiel Ängste, Verwirrtheit oder Schlaflosigkeit auftreten, die aber mit ärztlicher Hilfe medikamentös beherrschbar sind. Bei der Auswahl wie bei der Dosierung von Medikamenten muss man in Rechnung stellen, dass nach mehreren Tagen eines Trinkverzichts der Flüssigkeitsgehalt des Körpers deutlich verringert ist.

9

Siehe auch https://www.sterbefasten.de

Einige Fallbeispiel sind auch über die in Endnote 12 angegebenen Links zu finden.

10

Chabot/Walther, vgl. Endnote 6. Die erste Auflage erschien 2010. Es handelt sich um eine Übersetzung und Erweiterung des inzwischen vergriffenen Buches «A hastened death by self-denial of food and drink» von B. Chabot (2008, Eigenverlag). Vorangegangen war die eingeschränkt zugängliche Veröffentlichung des jetzt ebenfalls vergriffenen Buches «Wege zu einem humanen, selbstbestimmten Sterben» von P. Admiraal, B. Chabot und anderen (2008, Stiftung WOZZ), in dem B. Chabot im 2. Kapitel erstmals auf Deutsch diese Möglichkeit, sein Leben zu beenden, vorstellte, während in den übrigen Kapiteln Suizidmethoden mittels verschiedener Medikamente beschrieben wurden.

11

Zum Beispiel Ethik in der Medizin (2010 von M. Synofzik): https://www.researchgate.net oder

Fachbuchjournal (2010, Heft 3, von Frau L. Dannenberg-Mletzko): https://www.fachbuchjournal.de (die Rezension befindet sich auf S. 53-54).

12

FAZ, 20.7.2012

https://www.faz.net

Die Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte dagegen 2014 einen ausführlichen, sachlichen Aufsatz über das Thema:
https://www.zeit.de

Abgesehen von wenigen weiteren Erwähnungen des Themas in deutschen Zeitungen, ging 2012 der Bericht über das Sterben des Briten Tony Nicklinson um die Welt. Er litt an einem Locked-in-Syndrom und wollte mit ärztlicher Hilfe sterben, was ihm aber der High Court in London verweigerte. Er ging dann durch Sterbefasten aus dem Leben, was seitens der Angehörigen durchaus als guter Tod erfahren wurde; sie (wie viele andere) lehnen es aber ab, mangels Alternativen mit dieser Art des Todes vorlieb nehmen zu müssen.
https://www.zeit.de

13

Bickhardt, J., Hanke, R.M. (2014): Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – Eine ganz eigene Handlungsweise. Deutsches Ärzteblatt 111, A590-592
https://www.aerzteblatt.de/pdf/111/14/a590.pdf

14

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) hat Anfang 2014 eine ablehnende Stellungnahme zum ärztlich assistierten Suizid herausgegeben.

Zwar sollen Suizidwünsche von Patienten nicht erfüllt werden, aber es soll nun doch mit ihnen über diesen Wunsch gesprochen werden. Auf S. 12 findet man unter einer Reihe von Empfehlungen diese Aussage:

«Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit kann für einige Patienten eine mögliche Alternative sein. Auf diese Weise das Ende des eigenen Lebens herbeizuführen, dieses Vorhaben aber auch jederzeit unter- bzw. abbrechen zu können, ermöglicht diesen Patienten ein selbstbestimmtes Leben und Sterben.»

Die Stellungnahme der DGP ist auch im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht worden:
Nauck, F. et al. (2014): Ärztlich assistierter Suizid: Hilfe beim Sterben – keine Hilfe zum Sterben. Deutsches Ärzteblatt 111: A67-A71

Auf der Internetplattform «DocCheck News» ist von Christine Hutterer ein informativer Artikel über das Sterbefasten erschienen, in dem auch der Medizinethiker A. Simon zu Wort kommt:

https://news.doccheck.com

2013 hatte die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin das Thema bereits aufgegriffen:
Oehmichen, F., et al. (2013): Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM): Ethische und rechtliche Gesichtspunkte der künstlichen Ernährung. Aktuel. Ernährungsmed. 38: 112-117

Wie man sieht, geschah dies «mit spitzen Fingern»:
«Der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken kann als Ausdruck des selbstbestimmten Sterbens im Sinne des autonomen Umgangs mit dem eigenen Leben gesehen werden [Chabot u. Walther, 2010], darf aber nicht mit krankheitsbedingter Inappetenz verwechselt werden. Dabei ist die Grenze zwischen bewusster Aufgabe des Lebenswillens und einer therapiebedürftigen psychischen Erkrankung sehr schwer zu ziehen und bedarf einer psychiatrischen Beurteilung. Sofern keine psychische Erkrankung vorliegt bzw. die psychische Erkrankung durch eine n Therapieversuch nicht wesentlich zu bessern ist, bedarf die Einleitung beziehungsweise die Fortführung der Ernährungstherapie der Rechtfertigung, indem für den Betroffenen zugleich eine realistische Perspektive verbesserter Lebensqualität eröffnet wird, in die dieser auch einwilligt.»

15

Eigentlich gehört das Thema Mundpflege zu einer guten pflegerischen Ausbildung. Da aber heutzutage gut ausgebildete Pflegekräfte oft wegen des notorischen Zeitmangels im Beruf und mässiger Bezahlung «hinschmeissen» und oft weniger qualifizierte Kräfte die Arbeit übernehmen, kann man leider nicht davon ausgehen, dass hierzu das nötige Wissen generell vorhanden ist und angewendet wird. Tipps für die Mundpflege sind ausser in den einschlägigen Lehrbüchern auch in dem Buch «Ausweg» von Chabot u. Walther (vgl. Endnote 6) sowie zum Beispiel auf der Webseite https://www.sterbefasten.de sowie in den FAQ zum Thema Sterbefasten auf www.sterbefasten.org zu finden.

16

Siehe vor allem: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch. Arztebl. 2011: 108(7): A-346-348
https://www.aerzteblatt.de

17

Hierzu gibt es eine Fülle von Empfehlungen und Stellungnahmen. Hier kann nur auf eine kleine Auswahl hingewiesen werden. Seit August 2014 ist eine bereits ausgearbeitete ausführliche, neue Empfehlung «Essen und Trinken im Alter» vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen online verfügbar.

Auch bei der AOK findet man eine Stellungnahme hierzu.

Von der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) wurde abgesehen von der bereits in Endnote 14 aufgeführten Leitlinie auch ein Buch herausgegeben: Weimann, A.; Körner, U.; Thiele, F. (Hrsg) (2009): Künstliche Ernährung und Ethik. Pabst Science Publishers, Lengerich

18

Man muss versuchen, sich vorzustellen, wie das wohl ist, wenn ein Dementer auch in solch einer späten Phase noch einen natürlichen Lebenswillen erkennen lässt. Diesen Menschen dank des Verzichts auf künstliche Versorgung in den Tod zu schicken – auch wenn das eindeutig dem früher geäusserten und / oder in einer Patientenverfügung niedergelegten Willen entspricht – werden manche als Tötung ohne Verlangen bewerten. Die Situation ist sicher weniger schwierig für das Umfeld, wenn zusätzlich zur Demenz bereits eine erhebliche weitere gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt, aber die Entscheidung wird wohl selten so rational klar sein wie etwa das Vorgehen bei einem Krebskranken, der bereits stark physisch leidet und voraussichtlich nicht noch viele Monate zu leben hat.

Vergleiche auch die Literaturangaben in Endnote 17.

19

Für diesen Abschnitt des Textes wurde auf Kap. 4 des Buches «Ausweg am Lebensende» zurückgegriffen.

Solche Folgerungen ziehen mehrere Wissenschaftler in verschiedenen Studien, z.B. Finucane, T.E. et al. (1999): Tube feeding in patients with advanced dementia. A review of the evidence. J. Amer. Med. Association 282, 1365-1370

Huang, Z. et al. (2000): The effects of fluid status and fluid therapy on the dying: a systematic review. J. Pall. Care 13, 41-52

Gillick, M.R. (2003): Rethinking the role of tube feeding in patients with advanced dementia. New Eng. J. Med. 342, 2016 – 210

Eine deutsche Untersuchung, die im Internet erhältlich war (jedoch in keiner wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wurde) kommt demgegenüber zum Schluss, dass dementen Patienten mittels einer PEG-Sonde zu besserer Lebensqualität verholfen werden kann.

Eine Auswertung wissenschaftlicher Literatur zur Frage des Nutzens von PEGs bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz findet sich in der Leitlinie Geriatrie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin:

Vokert, D. et al. (2013): Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG Klinische Ernährung in der Geriatrie, Aktuelle Ernährungsmedizin 38, e1-e48

Hier fehlen übrigens die drei oben zitierten Untersuchungen sowie die beiden in der nachfolgenden Endnote aufgeführten.

Das Thema ist komplex und führt noch immer zu weiteren Publikationen. Offenbar ist es sehr schwierig, bei den zu befragenden Pflegekräften zwischen Meinungen und Erfahrungswerten zu unterscheiden – ein Methodenproblem, das zum Beispiel von dieser Publikation thematisiert wird: Zapka, J. et al. (2014): Challenges in efficacy research: the case of feeding alternatives in patients with dementia. J.Advanced Nursing (elektronische Vorauspublikation):

https://www.ncbi.nlm.nih.gov

20

Pasman, H.R.W. et al. (2005): Discomfort in nursing home patients with severe dementia in whom artificial nutrition and hydration is forgone. Arch Int. Med. 165, 729 – 1735
https://archinte.jamanetwork.com

Thé, A. et al. (2002): Withholding the artificial administration of fluids and food from elderly patients with dementia: ethnographic study. Brit. Med. J. 325, 1362
https://www.ncbi.nlm.nih.gov

21

Nur 15 Prozent der Patienten überlebten länger als sechs Wochen; offenbar hatten sie von selber wieder zu essen und trinken begonnen. Ob es vergleichbare Untersuchungen gibt über demente Patienten, die noch nicht aufgrund einer zusätzlichen Erkrankung dem Tode nahe waren, muss hier offen bleiben. Eine weitere Studie aus den Niederlanden gibt Aufschluss über die Todesursachen bei Dementen und stellt fest, dass dort gut die Hälfte derer, die die Endphase der Demenz erleben, an Kachexie und/oder Dehydrierung stirbt:

Koopmans, R.T. et al. (2007): The «natural» endpoint of dementia: death from cachexia or dehydration following palliative care? Int J Geriatr Psychiatry 22:350-355.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17022107

Dieses Ergebnis kann vielleicht nicht auf Deutschland übertragen werden.

22

Seite e15 der DGEM-Leitlinie «Klinische Ernährung in der Geriatrie» (siehe Endnote 19)

23

Kolb, C.: Nahrungsverweigerung bei Demenzkranken

https://www.nahrungsverweigerung.de

24

Kolb, C. in: «Stellungnahme zur momentanen Diskussion um Sterbehilfe, Nutzen oder Nichtnutzen von künstlicher Ernährung bei dementen Menschen»

http://www.nahrungsverweigerung.de

25

So zum Beispiel bei der Entscheidungshilfe der AOK (vgl. Endnote 17) oder im Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses:

https://www.unimedizin-mainz.de

26

De Ridder, M. (2010): Wie wollen wir sterben? 3. Kap. «Künstliche Ernährung am Lebensende – Die Legende vom Verhungern und Verdursten». Deutsche Verlagsanstalt, München

Borasio, G. D. (2010): Über das Sterben – Was wir wissen – Was wir tun können – Wie wir uns darauf einstellen. Kap. 6 «Verhungern und verdursten? Ernährung und Flüssigkeit am Lebensende und bei Patienten mit Demenz oder Wachkoma». Verlag C.H.Beck, München

27

Hier sollte aber auch ergänzend darauf hingewiesen werden, dass laut einer Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in manchen Fällen ein Nutzen einer PEG in Betracht kommt:

«Bei immer knapperen Ressourcen erscheint die Sondenernährung häufig als die einfachere Variante; Hausärzte fühlen sich teilweise gedrängt, eine entsprechende Versorgung zu veranlassen (…) Dabei sind eine Lebensverlängerung, eine Reduktion von Komplikationen oder eine Besserung der Lebensqualität durch Sondenernährung bei terminaler Demenz nicht belegt. In bestimmten Situationen, wie zum Beispiel:

• kein terminales Krankheitsstadium

• Erfolglosigkeit konservativer Nahrungsunterstützung

• guter Allgemeinzustand

• erhaltener Mobilität

ist ein positiver Effekt der Sondenernährung bei Demenz allerdings möglich.»

Andererseits liest man in einer Erhebung des Gesundheitsamtes Bremen zur Verbreitung von PEGs in stationären Pflegeeinrichtungen:

«Im Rahmen eines Entscheidungsprozesses (PEG: ja oder nein) sollte eine breite Diskussion mit allen Beteiligten erfolgen. Dies erscheint nach unserer Erhebung vielfach so nicht zu funktionieren.» Ferner wird dort – aus den Berichten der MDKs mehrerer Bundesländer – gefolgert: «Die Versorgung von Patienten mit Ernährungssonden lässt zum Teil erhebliche Qualitätsdefizite erkennen.» Die Erhebung in Bremen hatte ergeben, dass bei gut 7 Prozent der stationär versorgten Personen eine PEG gelegt war und dass hierfür Demenz der zweithäufigste Anlass war (bei knapp 1/3 der Fälle; Schlaganfall war mit gut 40 Prozent der häufigste Anlass). In 50 Prozent der Fälle war das Legen der PEG von Klinikärzten, in 25 Prozent von niedergelassenen Ärzten veranlasst worden.

Eine ins Internet gestellte Dissertation «Therapiebegrenzung aus der Sicht von Pflegenden und Leitenden in Pflegeheimen und Hospizen mit Schwerpunkt Verzicht auf Flüssigkeitsgabe und Ernährung» von Kathrin Weigert (Giessen, 2013) stellt fest:

«Insgesamt sind die Teilnehmer aus den Altenheimen mehr auf Lebenserhalt bedacht als in Hospizen, auch wenn dieser Lebenserhalt dem erklärten Willen des Bewohners entgegensteht.»

https://geb.uni-giessen.de

28

Laut mündlicher Auskunft von Heike Schwabe, Fintel, besteht das Problem zwar bei weniger als der Hälfte, aber wohl doch mindestens einem Viertel der Patienten.

29

Siehe Endnote 24.

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Auf der einen Seite wird die Verbindlichkeit der Patientenverfügung auch für den Fall der Demenz gefordert, wie zum Beispiel in der Empfehlung «Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz» des Diözesanen Ethikrates im Caritasverband für das Erzbistum Paderborn (2009) oder von einer Gruppe von MedizinethikerInnen (2014): Jox et al. (2014): Patientenverfügungen bei Demenz: Der «natürliche Wille» und seine ethische Einordnung. Deutsch. Ärztebl. 111, A394-A396

Auf der anderen Seite wird vertreten, man könne sich beim Abfassen einer PV nicht vorstellen, wie das Leben in Demenz dann für einen selbst sein werde und deshalb (!) sei es im Grunde sinnlos, in seine PV etwa Bestimmungen aufzunehmen, die bestimmte medizinische Massnahmen, also auch das Legen eine PEG-Sonde, ausschliessen oder auf ein Verkürzen der dementen Lebensphase durch Sterbenlassen (bei Eintritt einer lebensbedrohenden Krankheit) abzielen.

Siehe z.B.

https://www.ethikrat.org/dateien/

und

https://www.deutsche-alzheimer.de

Aber namhafte Forscher, die sich seit langem mit Demenz befassen, teilen diese Auffassung nicht. So findet man zum Beispiel einen «Entscheidungsbaum» zur Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) bei dementen Patienten, in welchem der vorausverfügte Wille des Patienten eine gewichtige Rolle spielt (Abb. 1, in Förstl et al. 2010; bibliogr. Angabe in der nachfolgenden Endnote).

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Zu den Aufwendungen unserer Gesellschaft für Demente darf allerdings angemerkt werden, dass diese von verschiedenen Seiten, zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), als unzureichend bewertet werden.

Die ambulante Palliativversorgung für Demente hatte bisher noch keine hohe Priorität. Es ist wohl auch bezeichnend, dass in der Kurzfassung der «Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland» Demenz gar nicht vorkommt und sich in der Langfassung hierzu nur zwei Sätze finden, die eher wie ein Lippenbekenntnis klingen.

Derzeit versterben etwa 1/3 aller Bürger in Demenz laut Förstl., H. et al. (2010) Sterben mit Demenz – Versorgungssituation und palliativmedizinischer Ausblick. Fortschr. Neurol .Psychiatr. 78, 203-212

Es gibt viele gute Vorschläge, Dementen das Leben zu erleichtern, aber wie eine halbwegs flächendeckende Verwirklichung derselben zu finanzieren wäre, bleibt offen. Man bedenke: Derzeit gibt es ca. 1,4 Millionen Demente in der BRD – bis 2050 dürfte sie sich verdoppeln; siehe diese Schätzung von Statistika: https://de.statista.com

Wie man sieht, werden auch andere Alterserkrankungen stark zunehmen, sodass für diese ebenfalls ein enormes Wachstum der Kosten zu erwarten ist.

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Siehe z.B. das AOK-Schaubild auf dieser Webseite:
https://www.wido.de

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Gronemeyer, R. (2013): Das 4. Lebensalter: Demenz ist keine Krankheit. Pattloch Verlag, München. Hier handelt es sich teilweise um eine merkwürdige Mixtur, wie einige – willkürlich herausgegriffene – Zitate ahnen lassen: «Die Demenzmaschine läuft und läuft.» – «Ich glaube, wir können Demenz nicht verstehen, wenn wir sie nicht als die Rückseite einer vom Beschleunigungszwang zerfetzten Gesellschaft begreifen, die bei ihrer rasenden Fahrt notwendigerweise die Menschen auf den Standstreifen schleudert, die der Geschwindigkeit nicht gewachsen sind.» – «Vielleicht ist das eine weitere Mitteilung, die Menschen mit Demenz uns machen: Sie wissen, dass sie sofort vergessen sein werden, wenn sie tot sind. Und deshalb vergessen sie uns, die gesund Lebenden, bevor wir sie vergessen.» – «Vielleicht ist es das Letzte, was wir über die Demenz zu sagen haben, dass wir sie nicht verstehen.»

Vielleicht sind ja beispielsweise Diabetes Typ 2, grauer Star oder Osteoporose ebenfalls keine Krankheiten?!

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Hans Förstl, Forscher und Buchautor zu Demenz, schrieb zu dieser Perspektive in einem Editorial im Deutschen Ärzteblatt 2008 u.a.:

«In einer … Bevölkerungsstichprobe zeigten sich … 60 % der Befragten einverstanden mit einem assistierten Suizid im Fall einer schweren Demenz; 75 % wollten auf lebensverlängernde Massnahmen verzichten… Hier treffen sich die hohen Ansprüche des freien Kulturmenschen an sich selbst beziehungsweise die antizipatorische Selbstverachtung im Krankheitsfall mit gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Interessen.»

Förstl, H. (2008): Lebenswille statt Euthanasie – Innen- statt Aussenansichten neurodegenerativer Erkrankungen. Dt. Ärztebl. 105 (23): 395

https://www.aerzteblatt.de

Interessant ist die Wortwahl: Wer nicht dement leben will, verachtet sich (!!) antizipatorisch; zudem wird hier von «Innenansichten» gesprochen. Dass auf Lebensfreude bei Dementen fallweise (leider wirken auf uns manche aber freudlos) mit hoher Wahrscheinlichkeit – allerdings wohl eher von aussen! – geschlossen werden kann, ist das eine. Doch welche Werte man für sich persönlich zugrunde legt, um zu entscheiden, ob man zum Beispiel mit 82 Jahren das Leben lieber schon beendet statt noch jahrelang dement weiterzuleben, kann uns nicht die medizinische Forschung vorschreiben. Und: Wäre es unmoralisch, dabei gegebenenfalls auch zu berücksichtigen, dass man seinen in prekären Verhältnissen lebenden Kindern oder Enkeln das spätere Erbe nicht durch (dank eines sehr langen Unterstützungsbedarfs) hohe Pflegekosten schmälern möchte?

Was wir mittelfristig brauchen, sind robuste statistische Daten, wie viele Menschen – in Relation zur Zahl der Demenzfälle – Jahr für Jahr einer Demenz durch Selbsttötung zuvorkommen, so dass man absehen kann, und ob diese Zahl jemals eine ökonomisch relevante Grössenordnung erreichen wird (gegebenenfalls stellt sich dann die Frage, wie die Gesellschaft damit umgehen sollte). Denn immer wieder wird – besonders von Gegnern des Suizids! – betont, dass die in solchen Befragungen gefundenen hohen Zahlen Suizidwilliger in keinem Verhältnis zur Häufigkeit von Suiziden bei alten, vor allem an Erkrankungen leidenden Menschen stehe.

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Siehe Hannoversche Allgemeine Zeitung, 19.07.2012. Dieser Fall wurde 2014 ausführlicher beschrieben in dem bei Endnote 12 erwähnten Aufsatz in der Wochenzeitung Die Zeit.

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Prof. Walter Jens, ehemals Geisteswissenschaftler an der Universität Tübingen, veröffentlichte 1995 zusammen mit dem katholischen Theologen Hans Küng das Buch «Menschenwürdig Sterben – Ein Plädoyer für Selbstverantwortung» im Piper-Verlag, München (eine aktualisierte und erweiterte Ausgabe erschien 2010). Hier wird Selbsttötung als sinnvolle und legitime Massnahme erörtert, um im Alter das Leben zu beenden, wenn dieses nicht mehr gut zu ertragen ist oder sich die Lebensumstände bedrohlich verschlechtern. Doch 2004 verfiel – Ironie des Schicksals! – Jens in eine Demenz, die er in unterschiedlich guten und schlimmen Phasen neun Jahre lang durchlebte (er starb 2013). Gerne wurden in den Medien diejenigen Situationen erwähnt, in denen er rief «Nicht töten!», und als Beweis dafür gewertet, dass sich der frühere Wunsch, lieber tot zu sein, als dement zu leben, ins Gegenteil verkehre. Dass sein Verhalten indessen komplexer war und zu solch einer «seht-ihr-wohl»-Reaktion nicht wirklich berechtigt, kann man der Schilderung seine Ehefrau Inge Jens aus dem Jahre 2009 (im oben erwähnten Buch, Kapitel «Ein Nachwort in eigener Sache») entnehmen:

«Doch es gibt auch andere Situationen: wenn er weint, oder auch nur – scheinbar endlos – 'nein, nein, nein‘ stammelt, und expressis verbis den Wunsch äussert zu sterben, nicht mehr da zu sein: 'Ich will weg.‘ Allerdings korrigiert er diese Aussage fast immer und beinahe mit dem gleichen Atemzug: Aus dem 'ich will sterben‘ wird ein 'ich kann nicht mehr‘, 'ich will tot sein‘. Und dann – als begriffe er plötzlich die ganze Tragweite auch dieses Wunsches – folgt fast immer der Ausbruch: 'Hilf mir, ich muss sterben!‘ , 'Nein! Ich will nicht sterben‘. Die Angst schüttelt ihn, und es braucht lange Zeit, ehe er sich wieder beruhigt und die Versicherung, niemand wolle, dass er stürbe, ihn erreicht. Über den Verstand kann man ihm keine Zuversicht vermitteln, aber auf der Gefühlsebene ist er zu überzeugen.