Fast unerträgliche Glieder- und Knochenschmerzen machten sie bettlägerig und den Alltag zur Qual: Die 88-jährige Starschauspielerin Ellen Schwiers hatte Anfang 2019 nur noch einen Wunsch: «90 möchte ich auf keinen Fall werden. Ich empfinde mich als eine grosse Belastung.» 70 Jahre hatte sie auf der Bühne gestanden, war in Filmen und Fernsehserien beliebt und berühmt geworden.
Ein Beispiel von vielen
Die Bewegungsunfähigkeit wegen eines Wirbeleinbruchs und wegen heftiger Nervenschmerzen zwangen Ellen Schwiers zur völligen Untätigkeit, und dies belastete sie ebenso schwer wie die anhaltend starken Schmerzen. Sie entschloss sich deshalb zum Sterbefasten. Wie sie damit langsam, in gelassener Stimmung ihr Leben beendete, beschreibt der Publizist und palliacura-Präsident Peter Kaufmann anschaulich und detailliert im Fall 7 des Buches «Sterbefasten». 24 weitere aktuelle Beispiele und zwei zusätzliche, medizinhistorische Fallgeschichten belegen in der Zweitauflage, welch vielfältige Erfahrungen Angehörige und Pflegende mit dieser selbstbestimmten Art des Sterbens machen. Nach der Lektüre der Fallbeispiele und den anschliessenden Anmerkungen scheint vor allem klar zu sein: Diese Sterbemethode eignet sich vorab für energische, willensstarke Menschen und sie brauchen unbedingt die Unterstützung von Angehörigen und / oder von professionellen Pflegekräften.
Selbstbestimmte Entscheidung
Die Entscheidung zum Sterbefasten muss von einer sterbewilligen Person selbstbestimmt und freiverantwortlich getroffen werden. Der Schweizer Medizinethiker PD Manuel Trachsel legt in seinem wissenschaftlichen Kapitel die Kriterien und die wichtigen Grundsätze zur Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit aus ethischer Sicht fest und untersucht, bei welchen psychischen Erkrankungen sie allenfalls beeinträchtigt sein kann. Im Verlaufe des je nach Gesundheitszustand gelegentlich sehr langen Sterbeprozesses können sich auch Bewusstseinstrübungen und Delirien entwickeln, so dass die Selbstbestimmungsfähigkeit in Frage gestellt sein kann. In diesem Zusammenhang erörtert Trachsel, was «vorgängige Gespräche mit Fachpersonen und Angehörigen, eine Patientenverfügung oder Advance Care Planning leisten, um solche Situationen im Sinne der sterbewilligen Person zu gestalten».
Breite Diskussion nötig
Die gesellschaftliche Akzeptanz des Sterbefastens beleuchtet in einem weiteren Kapitel der Marburger Neurobiologe Christian Walther, Co-Autor des Sterbefasten-Standardwerkes «Ausweg am Lebensende» und der FAQ auf sterbefasten.org. Grundsätzlich hält er fest, dass der FVNF «mit weltanschaulichen und politischen Haltungen kollidieren und die damit konfrontierten Menschen individuell herausfordern» könne. Er gibt deshalb unter anderem einen fundierten Überblick über Stellungnahmen von wichtigen Organisationen und prominenten Personen, die sich im deutschsprachigen Raum in der Öffentlichkeit oder dann auf besondere Anfrage des Autors zum FVNF geäussert haben. Ausdrücklich stellt Christian Walther fest, dass es beim Sterbefasten noch weitgehend eine «Mauer des Schweigens» gäbe. Das vorliegende Buch liefert Fakten zu einer nötigen, gesellschaftlichen Diskussion über den FVNF und gibt Hoffnung, dass diese Mauer nicht mehr weiterbesteht.
Aktualisierte Zweitauflage
In der aktualisierten und erweiterten Zweitausgabe sind zwei der vier neuen Fallgeschichten ganz besonders faszinierende Beispiele aus der Schweiz. In einem weiteren Fall stellt sich die in den USA gegenwärtig gross diskutierte Frage, ob jemand in seiner Patientenverfügung zum Voraus bestimmen kann, dass er oder sie im Falle einer Demenz mit dem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit sein Leben vorzeitig beenden kann. Alle Kapitel sind dem gegenwärtigen Stand der Forschung entsprechend überarbeitet und durch neue Literatur ergänzt worden.
ALOIS BORNER
Überarbeiteter Text aus EXIT-Info
Buch:
*Kaufmann / Trachsel / Walther
«Sterbefasten. Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit»
Verlag: Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 2022
Buch, kartonierter Einband: 139 Seiten
ca. CHF 27.- / Euro 25.- ISBN 978-3-17-042415-9
Auch als E-Book und PDF erhältlich.